Der Lebenslauf von Oskar Pastior
Der Lebenslauf von Oskar Pastior
Was für eine schöne Handschrift! Das war der erste Gedanke, der mir beim Anblick von Oskar Pastiors Bewerbungsschreiben durch den Kopf schoss. Das Schreiben umfasst vier Seiten. Das vorgedruckte Formular beinhaltet formale Angaben zu Pastiors Person und außerdem ein Foto von ihm. Wo er sich wohl beworben hat? Kannst du dir vorstellen, dass dieser junge, seriös wirkende Mann dort auf dem Bild, der zudem noch eine bemerkenswert schöne und klare Handschrift hat, solch teilweise schwer verständliche und unklare Gedichte wie "Enge des Denkens, o kränkende Beschränkung! O wesensgegebene Keks-Menge! Verzehrende Zwänge, fernere Dränge, o transzendente Klemme!" verfasst haben soll? Unglaublich, aber wahr!
Vielleicht ist dir auch auf der ersten Seite aufgefallen, dass er bei seinen Vornamen "Oskar" unterstrichen hat. Mochte er seinen zweiten Vornamen "Walter" etwa nicht? Oder wollte er dadurch nur verdeutlichen, dass er lieber nur Oskar genannt werden möchte? Auffällig ist auch die Angabe seines Wohnorts "1 Berlin 31 bei H. Steiniger". Oskar Pastior hat bereits in Deutschland zur Untermiete gewohnt, als er die Bewerbung schrieb. Jedoch muss er ein eigenes Telefon besessen haben, denn er hat eine Fernrufnummer angegeben, das Feld "herbeizuholen durch" aber nicht ausgefüllt. Damals hatte vermutlich nicht jeder ein Telefon, so dass man den Namen desjenigen, der einen Apparat besaß, in dieses Feld eintrug.
Wie wir hier erfahren, hat Pastior bei seinem Studium den Schwerpunkt auf literarische Fächer gelegt, so studierte er zum Beispiel Weltliteratur. Das erklärt vielleicht auch, weshalb in seinen Gedichten so viele Sprachen vorkommen. Es ist sicher interessant, sich mit Literatur aus der ganzen Welt zu beschäftigen und viel Neues kennenzulernen.
Auf der dritten Seite erfährst du einiges über Pastiors Leben. Was findest du am interessantesten oder bewegendsten? Pastior schreibt in seinem Lebenslauf: "Von der Schulbank wurde ich Januar 1945 nach Russland verschleppt; dort arbeitete ich an der Schaufel bis Dezember 1949." Diese Aussage, seine Verschleppung und seine Zeit als Zwangsarbeiter, haben mich sehr beschäftigt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, aus der Familie und dem gewohnten Umfeld gerissen zu werden und nicht zu wissen, ob man seine Freunde und Familie jemals wiedersieht. Ich würde es wahrscheinlich nicht verkraften, tagaus, tagein mit dieser Ungewissheit zu leben.
Ich frage mich, ob seine Gedichte, die, so Pastior selbst, den Leser einem Wechselbad aus Verständlichkeit und Unverständlichkeit aussetzen sollen, sein Leben und seine Gefühle in bestimmten Lebenssituationen widerspiegeln. Aus seinem Lebenslauf erfahren wir auch, dass ihm die Literatur sehr am Herzen lag: Er verfasste selbst viele Gedichte und übersetzte auch Texte von rumänischen Autoren und Dichtern ins Deutsche. Außerdem bittet er ausdrücklich um eine Anstellung im literarischen Bereich, die es ihm auch zeitlich erlaubt, weiterhin selbst lyrische Texte zu verfassen. Die letzte Seite ist eine Auflistung Pastiors bisheriger Tätigkeiten. Er war wohl vielseitig begabt, so arbeitete er beispielsweise als Kistennagler, Bautechniker und beim Rundfunk.
Meiner Meinung nach hat er Auszeichnungen wie den Büchner-Preis auf jeden Fall zurecht bekommen, denn mit seinen Gedichten hat er der Nachwelt einen Grund zum Nachdenken und mit seinen originellen Wortschöpfungen auch einen Grund zum Schmunzeln hinterlassen. Für mich machen vielleicht nicht all seine Gedichte Sinn, aber ich denke, dass jeder etwas aus ihnen fürs Leben mitnehmen kann und wenn es auch nur ein herzliches Lachen ist.
von Annalena Pfeiffer