Typoskript 'Feiggehege'
Typoskript 'Feiggehege'
Das FEIGGEHEGE ist ein Gefilde (oder Gebilde) mit starker Abwesenheit. Das FEIGGEHEGE ist paradiesisch eine Art Wörterversammlung mit fehlendem Versatzstück, das anderswo zur Zeit aber grassiert – finden Sie es in diesem Suchbild, genannt "Feiggehege".
Schon bei der Einleitung zu Oskar Pastiors Text feiggehege stocke ich. Ich lese sie einmal, zweimal, dreimal und komme zu dem Schluss, dass jedes weitere Durchlesen mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Was ist ein Gefilde? Gibt es das Wort oder ist es eine Erfindung? feiggehege ist sicherlich eine Wortneuschöpfung Oskar Pastiors. "Mit starker Abwesenheit" – aber was ist abwesend? Zunächst fällt mir nur ein: Sinn. Sinn in diesen Worten ist für mich abwesend, genauso wie ein Zusammenhang. Aber wäre das nicht zu einfach? Genau diese scheinbare Sinnlosigkeit und Rätselhaftigkeit der Wörter, wie "Gefilde", "Versatzstück" oder "grassieren" wecken mein Interesse.
Ich widme mich nun also dem Gedicht feiggehege. Zunächst schaue ich es mir nur an, denn beinahe habe ich Angst davor, es zu lesen und nichts zu verstehen. Der kleine Text zu Beginn scheint nicht zum Gedicht zu gehören. Das Wort "Titelansage" deutet darauf hin, dass Oskar Pastior diesen Text im Radio gelesen hat. Alle Wörter sind klein geschrieben, die Strophen sind unterschiedlich lang, insgesamt sind es elf. Auf dem Typoskript hat Pastior seinen Namen am Ende durchgestrichen. Einige Wörter wurden handschriftlich mit Betonungsstrichen versehen – vielleicht, damit Pastior sich besser merken konnte, wie er sein Gedicht lesen wollte. Die Zeichen sind auch ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm das Vorlesen seiner Werke war.
Das Gedicht wirkt auf mich fragmentarisch, also unfertig, zusammengestückelt. Es sieht aus wie eine lange Liste, eine Wörtersammlung – genau das erwähnt Pastior in seinen einleitenden Worten: "Das feiggehege ist eine Art Wörterversammlung".
Listen haben für Oskar Pastior eine besondere Bedeutung. Er kam als 17-jähriger in ein ukrainisches Arbeitslager, in dem die Lebensbedingungen menschenunwürdig waren. Als Zwangsarbeiter in einem Arbeitslager ist man nicht mehr als eine Nummer auf einer Liste.
Seine Listengedichte betrachtet er als "mystische Zusammenschau von Vergewisserung und Deportation, Nüchternheits- und Überlebenstechnik". So muss man das Gedicht feiggehege vielleicht sehen, als ein Suchbild, in dem es um die Erfahrungen bei der Deportation und allem, was dieser folgen sollte, geht. Suchen wir also beim Lesen nach Gefühlen wie Angst, Einsamkeit, Fremdheit und Verzweiflung.
staubfeig. schuldfeig. einwandfeig.
jugendfeig feindfeig kniefeig hitzefeig
straf zech rauch bruch knitter schreib
Die ersten Verse wirken zunächst abschreckend – man fragt sich erneut: Gibt es diese Wörter wirklich? Was haben sie für einen Sinn?
Herausstechend ist die Endung "-feig", die im dritten Vers zu fehlen scheint. Ersetzt man das Wortteil "-feig" durch "-frei", ergeben die einzelnen Wörter plötzlich einen Sinn. Obwohl es hier falsch wäre, von Sinn und Unsinn zu sprechen. Besser wäre zu sagen, man erkennt die Wörter durch das Ersetzen der Wortteile.
staub-frei. schuld-frei. einwand-frei.
jugend-frei feind-frei knie-frei hitze-frei
straf-frei zech-frei rauch-frei bruch-frei knitter-frei schreib-frei
Dieses Puzzlespiel zieht sich durch das ganze Gedicht, das so einen neuen Titel zu bekommen scheint: frei-gehege. Mit diesem Wort verbinde ich Tiere, die in einem Zoo in Käfigen leben. Ein Freigehege ist zwar ein großer Käfig, in dem die Tiere in einer artgerechten Umgebung leben, jedoch leben sie in Gefangenschaft, wenn auch in einer getarnten. Das Freigehege versucht, dem Tier zu verheimlichen, dass es in Gefangenschaft lebt.
Dieser Gedanke zieht sich für mich durch das Gedicht. Einzelne Wörter, die Spaß und Heiterkeit, Gesellschaft und Unbeschwertheit beschreiben, wie "zech-frei", "hitze-frei", "schul-frei" scheinen eine unbeschwerte Atmosphäre schaffen zu wollen, genauso wie die Wortakrobatik, mit der Pastior den Leser einlädt, sich ein Sinn stiftendes Gedicht zusammenzubasteln. Ebenso wirken die einleitenden Worte. Hier spricht Pastior von einem Gefilde. Laut Duden ist ein Gefilde eine liebliche Landschaft mit der angenehme Gefühle oder Sehnsucht assoziiert werden.
Jedoch tauchen in diesem Suchbild auch hier und da einige Wörter auf, die aus der positiven, spielerischen Grundstimmung herausstechen. Schon beim zweiten Wort stocke ich: "schuld-feig" oder "schuld-frei". Und immer weitere Worte scheinen die Geschichte der Deportation erzählen zu wollen: "sichtvermerk" im vierten Vers ist ein altes Wort für Pass, nach der Logik des Gedichts wäre es nun "sichtvermerk-frei", also "pass-frei".
Ebenso fällt einem das Wort "wahl" im fünften Vers auf, das nun zu "wahl-frei" wird. Bei der Deportation wurde den Deportierten die Wahl auf eine Heimat, ein selbstbestimmtes Leben genommen. Sie wurden dorthin vertrieben, wo die Regierung sie hinbrachte. Sie waren demnach "wahl-frei".
"Die Spuren der Angst, Einsamkeit, Fremdheit und Verzweiflung", die sich durch dieses Gedicht ziehen, scheinen "immer wieder um das Thema Schuld, das, wie Pastior bekennt, für ihn zentral war" zu kreisen. "-feig" ist das meist genannte Wort oder Wortstück des Gedichtes. Feigheit lässt sich meiner Meinung nach in Verbindung mit Schuld bringen.
An einigen Stellen des Gedichtes ist es auch interessant, den Wortteil "-feig" nicht zu ersetzen und somit genau das zu lesen, was dort steht: "schuldfeig ... sündenfeig ... feigheit, die ich meine".
Hier offenbart das Gedicht eine Konfrontation mit einem heiklen Lebensthema Pastiors, dem der Schuld.
Die fünfte Strophe scheint dieses Thema zu behandeln:
immer die feigheit des anderen.
nimmt sich da vor dem mund heraus
auf feigem fuße feige hand zu lassen.
und unter feigem himmel feigem volke
feigen lauf und fall
Vielleicht deutet Oskar Pastior hier sein Schuldgefühl an, welches er auf Grund seiner Arbeit als Informeller Mitarbeiter beim rumänischen Geheimdienst gegenüber seinen Freunden hatte, die er bespitzeln sollte. Vielleicht spricht er von Feigheit im Allgemeinen und spricht uns damit alle an, denn wer zu feige ist, etwas zu verändern, der macht sich schuldig.
In diesem Rätselhaften liegt meiner Meinung nach die Faszination und Einzigartigkeit des Gedichtes feiggehege. Durch seine auf den ersten Blick scheinbare Sinnlosigkeit bietet es viel Spielraum. Der Leser wird von Pastior aufgefordert, in dem Suchbild, das er "feiggehege" nennt, ein Versatzstück zu suchen.
Wer ein bisschen über Pastiors Lebensgeschichte Bescheid weiß, der meint, hier und da einige Hinweise zu finden, jedoch bleiben diese nur einzelne Spuren und Vermutungen des Lesers. "Pastior war stets darauf bedacht, zwischen Leben und Werk einen Abstand zu wahren, gar dem Leser die Lust am biografischen Lesen zu verderben." Und so sollte man neben all den Spekulationen und Vermutungen zu Pastiors biografischen Elementen in dem Gedicht feiggehege vielleicht auch die Warnungen und Impulse herauslesen, die für uns alle gelten könnten. Am meisten beeindruckt haben mich die Verse
stoß eis zins risiko bis leider efkaka-
feigheitsliebende sind zweifelsfeig
Ich verstehe darunter, dass "efkaka" (FKK) der höchste Zustand der Freiheit ist. Der Mensch befindet sich im ungebundenen Naturzustand – er ist nackt und präsentiert sich somit ungeschützt seiner Umwelt. Nur wer frei von Schuld und Angst ist, wird diesen Zustand ertragen können. Somit ist der Freiheitsliebende zweifelsfrei – also frei von (Selbst-)Zweifeln. Eine schöne Vorstellung.
Jedoch kann jeder Leser etwas anderes in diesen Versen lesen und andere Verse des Gedichts viel faszinierender finden. Und vielleicht geht es Oskar Pastior auch darum: Den Leser zu ermutigen, die Verse stehen zu lassen, in denen er meint, für sich keinen Sinn zu erkennen – und die Verse des Gedichts herauszusuchen, in denen er eine Anregung oder einen Sinn für sich erkennt.
Also nimm dir noch ein wenig Zeit und entdecke, was das Gedicht feiggehege dir sagen möchte!
von Sandra Schell