Schriftstellerin im Exil

Notizbuch: Angst
DLA Marbach, Nachlass Mascha Kaléko, © Gisela Zoch-Westphal

Schriftstellerin im Exil

Junges Museum

Du siehst hier eine Doppelseite aus Mascha Kalékos Notizbuch:

[linke Seite]

Angst

Wenn wir hingegen
tödlich verunglücken
[Zeile unleserlich, gestrichen]
Und Du Und Du

[rechte Seite]

Nr. 7 [gestrichen] Miami
die Hölle als Ausflugsort

das Leben ein Puzzlespiel
– mir fehlt das letzte Stück

die Brücke überm Abgrund
mit gebundenen Händ [Zeile gestrichen]
mit [gestrichen] (die Hände unseren Besitz [gestrichen]
        Besitz festhaltend)
das ist unser Leben

Was ist dein erster Eindruck? Dein erster Gedanke, der Dir dazu durch den Kopf schwirrt? Ich denke immer, meine Güte, so sieht doch kein Notizbuch, wie ich es mir vorstelle, aus! Meines wäre wahrscheinlich über und über bekritzelt mit unnötigem Zeug.

Bei Kalékos Notizbuch sticht zuallererst der Schriftzug „Angst“, der groß und bedrohlich auf der linken Seite prangt, ins Auge. Wovor könnte Mascha Kaléko Angst gehabt haben? Vor den Nationalsozialisten in Deutschland? Dem Krieg? Oder aber vor ihrem neuen Leben in der Fremde und dem Verlust ihrer Heimat?

Die anderen Notizen, die sie auf diese beiden Seiten geschrieben hat, sehen im ersten Moment aus, als könnte man davon nichts entziffern, aber meiner Meinung nach spiegeln sich genau dadurch ihre Gedanken und Gefühle in ihrer Handschrift wider. Vor allem durch die von ihr gewählten Worte wird klar, wie sehr sie sich wohl nach Deutschland und ihrem vertrauten Umfeld gesehnt haben muss. Mit Sätzen wie „Miami – die Hölle als Ausflugsort“ oder „Das Leben ein Puzzlespiel - mir fehlt das letzte Stück“ scheint sie ein Gefühl des Verlorenseins in der Fremde ausdrücken zu wollen. Auch die Bemerkungen „Wenn wir hingegen tödlich verunglücken?“ und „Die Brücke überm Abgrund (...) das ist unser Leben“ haben mich sehr erschüttert und verraten viel darüber, wie Mascha Kaléko in dieser schwierigen Zeit gedacht und gefühlt hat.

Was würdest du in solch einer Lebenssituation in Dein Notizbuch schreiben?


Einige deutsche Schriftsteller und Wissenschaftler haben Mascha Kaléko für genau diese Melancholie in ihren Gedichten und Schriftstücken geliebt, zum Beispiel Thomas Mann, der ihr sogar einen schrieb und sie darin bat, nach Deutschland zurückzukehren. Trotzdem kam sie nie wieder nach Deutschland, um dort zu leben.

von Annina Keller