Anna Seghers, "Transit", 1948

Anna Seghers: Transit
DLA Marbach

Anna Seghers, "Transit", 1948

Junges Museum

Anna Seghers, Transit

Es ist zu viel. Es ist viel zu viel. Mit einem stummen Schluchzen vergrabe ich den Kopf in der dünnen Bettdecke. Zu viele Menschen, und trotzdem immer dieselbe Einsamkeit. Zu viel Verantwortung, obwohl ich nichts tun kann. Zu viele immer gleiche Enttäuschungen in diesem unbeständigen Leben. Sinnlose Hoffnungen auf etwas, das vermutlich niemals geschehen wird. Zu viel für einen einzigen Menschen, für eine heimatlose Frau ohne Geld, aber mit zwei hungrigen Kindern. Zu viel für mich.

Krampfhaft schluchzend rolle ich mich auf der harten Pritsche zusammen. Ich kann nicht mehr anders. Man kann sich zusammenreißen, wie man will, irgendwann überrollt einen das Erlebte doch. Und man bricht einfach zusammen wie ein instabiler Turm Bauklötze. Liegt in Trümmern auf dem Boden des Kinderzimmers. Und niemand kommt herein, um einen wieder aufzubauen. Die Kinder sind längst erwachsen geworden. In den Krieg gezogen gegen den Faschismus. Und nie, nie zurückgekommen.

Peter kommt ins Zimmer. Er fragt, warum ich weine. Ich schüttle den Kopf. Versuche ein Lächeln. Es misslingt. Er sagt, Ruth wolle mit mir sprechen. Sie hätte Fragen. Ich folge meinem Sohn in die kleine Kammer nebenan. Meine zwölfjährige Tochter sitzt auf dem Bett. Sie wartet. Ich lasse mich auf der Liege ihres Bruders nieder. „Ich helfe René in der Küche“, sagt er. Dann geht er nach unten. Hilft der Fremden, die uns Unterschlupf gewährt.

Ruth sieht mich an. Ganz ernst. „Warum müssen wir bei René wohnen? Warum gehen wir nicht nach Hause?“ Ich stehe auf und setze mich neben sie auf die Bettkante. Lege den Arm um sie und halte sie ganz fest. „Schätzchen, wir können nicht nach Hause. Wir haben kein Zuhause. Aber wir finden eins. Wir holen deinen Vater und dann finden wir ein ganz schönes Haus, nur für uns vier.“ „Können wir nie mehr zurück nach Deutschland?“ Sie kann sich kaum noch an Berlin erinnern. Sie war sechs, Peter acht als wir weggingen. Doch sie weiß, dass wir in Deutschland eine Heimat hatten. Bevor die Nazis kamen. Ich schaue ihr fest in die Augen. Antworte ganz ehrlich: „Vielleicht. Irgendwann.“

Netty Reiling schlägt ihr Notizbuch zu. Ja, genau so war es gewesen, damals in Marseille, vor der Überfahrt nach Mexico. Sie betrachtet das weit gereiste schwarze Büchlein. Auf der ersten Seite steht: Eigentum von Anna Seghers. Das Pseudonym gefällt ihr immer noch. Sie blättert durch die ersten Seiten und meint, wieder den Duft der frischen Crossaints zu riechen, der beim Schreiben der ersten Kapitel allgegenwärtig war. Denn begonnen hatte sie die Niederschrift ihrer Geschichte in den kleinen Pariser Stadtcafés. Das war es, was sie an der französischen Hauptstadt am meisten vermisste: die kleinen Treffpunkte überall in der riesigen Metropole, die ihr stets ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt hatten. Und Geborgenheit war ein seltenes Glück gewesen auf ihrer Flucht vor Hitlers Truppen.

Einige Seiten später finden sich überall auf dem Papier kleine Wasserflecken. Sie muss lächeln, als sie daran denkt, wie glücklich sie auf der Überfahrt nach Mexico gewesen war. Sie hatte ihren Kindern ein sicheres Leben in der Neuen Welt gesichert. Und sie hatte László wiedergefunden! Glückselig erinnert sie sich an ihr Wiedersehen. Notgedrungen hatte sie die Schiffskarten angenommen, auf die sie so lange gewartet hatte. Wenn sie doch nur gemeinsam mit ihrem Mann hätte fahren können! Doch sie musste das Richtige tun, für die Kinder. Und dann, zwei Tage vor der Abfahrt nach Mexico, stand er plötzlich in der Tür der kleinen Wohnung in Marseille. Auch jetzt steht er wieder in der Tür ihres Zimmers.

„Netty, wir müssen los! Peter und seine Freundin warten schon!“ Lächelnd erhebt sie sich von ihrem Schreibtisch und lässt ihr Buch auf der Platte liegen. Ihr kleiner großer Peter! Achtzehn ist er inzwischen. Und er hat so ein nettes Mädchen kennengelernt hier in Mexico. Aber auch wenn es den Kindern hier sehr gefällt, ganz tief in ihrem Herzen zieht es Netty zurück nach Deutschland. Sie weiß es nicht, aber eines Tages wird ihr Wunsch in Erfüllung gehen.

von Jule Rüter


Transit, Anna Seghers

Blätter rieseln auf das Wasser und verzerren die goldgelben Lichtspiegelungen, die aus den hohen Köpfen der Messinglaternen neben mir fallen. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der mir so etwas wichtig gewesen war. Vor dieser Zeit hier, meine ich. Ich glaube, damals nannten die Leute das  Jugend. Lebensfreude. Ein Glühen, das nur kurz glimmt und ergraut, sobald der Wunsch nach Feuer schwindet.

Jetzt, da ich nichts mehr habe, scheint es intensiver. Ich kann wieder die Versuchung spüren, die Dinge auf mich ausüben. Eine Versuchung, deren Existenz ich lange vergessen habe. Einen Sinn habe ich trotzdem nicht gefunden. Sinnlos wäre es auch, nach ihm suchen zu wollen. Freude ergibt sich aus Sinnlosigkeit. Sinn wird durch Schmerzen zerstört. Wird unbedeutend. Auch ich bin unbedeutend geworden, für die, denen ich Mittel war.

Ich spüre, wie sich die Umgebung verändert. Es ist ein altbekanntes Gefühl. Während ich über sie nachgedacht habe, sind die Blätter zu etwas geworden, das mir nicht mehr fremd ist. Die Strömung der französischen Seine, in der sie schwimmen, bekommt etwas Vertrautes.

Ich muss aufpassen. Vertrautes - das ist nicht das, was ich wollte. Ich habe nicht umsonst aufgegeben, was ich besaß. Vertrautes gegen Schutz und Freiheit - ein fairer Tausch. Aber auch eine Prostitution der eigenen Erinnerung.

Langsam richte ich mich auf und lasse die goldenen Lichter von Paris hinter mir im Wasser zurück. 

von Leonard Schwob