Identitätsausweis für Katia und Thomas Mann, 1933
Identitätsausweis für Katia und Thomas Mann, 1933
Alte Erinnerungen
„Warte, ich helfe dir!“
Sanft nahm Erika ihrer Mutter die schwere Kiste aus der Hand.
„Ruh dich lieber aus. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat.“
Katia seufzte resigniert und ließ sich auf das grüne Sofa fallen, das mitten in dem großen Raum stand. Die vielen grauen Kisten um sie herum lösten bei ihr das Gefühl von Angst und Einsamkeit aus. Sie dachte an Thomas. Was würde er wohl denken, wenn er hier wäre und mitbekäme, wie sie seine Sachen sortierten. Wahrscheinlich würde er wütend werden, aber das war ihr jetzt egal. Seit seinem Tod fühlte Katia sich sehr allein und leer. Zum Glück hatte sie noch ihre Tochter, die ihr in der schweren Zeit beistand. Erschöpft lies sich Erika neben sie fallen. „Was ist denn in diesen vielen Kisten drin? Sind das alles Werke von ihm?“, fragte sie.
Katia schüttelte den Kopf. „Nein, da drin sind auch einige wichtige Dokumente.“
Sie öffnete eine Kiste, die in ihrer Nähe stand und zog einen Aktenordner hervor. Er war schon stark vergilbt, doch die Papiere im Inneren waren säuberlich geordnet, und gut erhalten. Neugierig betrachtete Erika das oberste Blatt genauer. In großen Druckbuchstaben stand darauf: IDENTITÄTSAUSWEIS. Und darunter: certificat d´identitée. Auch der darauffolgende Text wurde jedesmal ins Französische übersetzt. Direkt daneben befanden sich zwei Fotos. Unwillkürlich musste Erika lachen: „Seid das etwa ihr?“
Auch Katia grinste. „Natürlich! Hier steht: Katharina Mann und dr. phil. Thomas Mann.“
„Warum wolltet ihr damals überhaupt ausreisen?“ Neugierig sah Erika ihre Mutter an.
„Das war gar nicht geplant. Wir hatten nur vor, Urlaub in der Schweiz zu machen. Aber die politische Lage in Deutschland wurde immer übler.“
Sie machte eine kurze Pause. „Aber das weißt du ja alles! Erst im November 1936 bekamen wir dann die tschechische Staatsbürgerschaft. Kurze Zeit später sind wir dann nach Amerika ausgewandert und haben dort im Exil gelebt. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens, aber für ihn habe ich alles gemacht.“
Eine Weile herrschte Stille im Raum. Beide Frauen hingen ihren Gedanken nach. Erika betrachtete das Bild ihres Vaters genauer. Seine Haare waren streng nach hinten gekämmt, und seine blauen Augen funkelten, als wollten sie sagen: „Ihr werdet es nie schaffen, mich zu unterdrücken. Ich werde schreiben, egal was kommt!“
von Muriel Nussbaum