Siegfried Kracauer: Vorläufiger Personlausweis, 1940
Siegfried Kracauer: Vorläufiger Personlausweis, 1940
Lügen
Der Tee war sehr süß. Auf dem Boden lagerte sich der Zucker, und es knirschte unangenehm, wenn der silberne Löffel über den Porzelanboden kratzte.
Das süßliche Gebräu tropfte auf die Frankfurter Morgenzeitung. Auf sein verhasstes Gesicht, sein Grinsen, auf seine Todesanzeige. Der Führer war tot. Sie hatten es lange verheimlicht, aber jetzt kam die Botschaft. Erschreckend, erleichternd. Sie schrieben ihm Lob, sie schrieben Lügen. Sie verleugneten ihn, sie leugneten seine Taten. Dieser Mensch, dieser Tyrann, wie er hier grinsend, königlich abgebildet wurde, er hatte gemordet, er hatte zerstört und sich nicht mal seine eigenen Hände dreckig gemacht. Unter der gestrigen Zeitung lagen die, von den letzten Wochen. Der Krieg war vorbei. Doch die Verluste wurden ihnen allen von Tag zu Tag mehr bewusst. Es würde lange dauern, bis alles vergessen war. Vielleicht sollte es niemals vergessen werden. Ich warf die Zeitung weg. Dieser Tyrann hatte uns um den gesamten Erdball gejagt, als Deutsche aus unserem eigenen Land vertrieben. Durch Frankreich über Spanien nach Portugal bis in die Hölle. Wir waren verhasst, wir wurden gemieden.
Die Auswanderung wurde uns verweigert, wir wurden festgehalten wir wurden
mit der eigenen Angst gefoltert. Uns wurden Pässe ausgehändigt, die uns an der nächsten Grenze schon wieder fast ins Verderben führten. Wir waren Fremde im eigenen Land, in einem Land, das von einem Tyrannen regiert wurde, einem Tyrannen ohne Gewissen.
Hitler war tot. Unser Leben war mit der Hoffnung auferstanden.
von Helena Singer
Am Hafen von Portugal
Die Türe des portugiesischen Konsulats schlägt hinter uns zu.
„Lili! Renn’! Renn’!“ Meine Frau dreht sich erschrocken zu mir um. Das Schiff ist noch nicht in Sicht, aber ich weiß: Wenn wir uns nicht beeilen, sind wir zu spät. Und obwohl ich keine Uhr habe, ist mir klar, dass wir so gut wie keine Chance mehr haben. Ich schiebe meinen Personalausweis in den Koffer und nehme Lili am Arm. Tränen stehen ihr in den Augen. Sie hat Angst. Genau wie ich, aber dafür ist jetzt keine Zeit.
„Nun lauf endlich!“, rufe ich und ziehe sie hinter mir her. Lili läuft, so schnell sie kann, und bald ist sie diejenige, die mich zieht. Die Koffer zerren an meinem Arm und meine Schulter fühlt sich an wie mit heißem Wasser übergossen. Wir preschen die Straße entlang. Ich höre Lilis Keuchen. Wir müssen es schaffen. Wir müssen es schaffen. Ich wiederhole den Satz immer wieder.
Die Häuser ziehen an mir vorbei wie alte Erinnerungen, während meine Füße im Takt auf den Boden treffen. Links, rechts, links, rechts. In meiner Seite beginnt es zu brennen. Meine Zehen spüre ich schon gar nicht mehr.
Wir biegen scharf rechts ab und ein Schwall kühler, salziger Luft trifft mich. Über uns kreischen die Möwen. Es klingt als würden sie sagen: „Ihr habt verloren.“ Wir rennen die Straße weiter, rechts von uns das Meer, die Wellen, die gegen die Steinmauern des Hafens schlagen, die Gischt, die wie ein Schwarm weißer Schmetterlinge zu uns empor fliegt und zerfällt. „Wir werden es schaffen.“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und drücke Lilis Hand so fest ich kann.
Dort vorne ist das Schiff. Ich kann sehen, wie Gepäck verladen wird und Passagiere einsteigen. Ich spüre, wie Lili an meinem Arm zieht, mich antreibt, noch schneller zu laufen. Sie sieht das Schiff auch. Unser Transport zur Freiheit.
Das Schiff kommt immer näher. Meine Sicht wackelt, so große Schritte mache ich. Tränen steigen mir in die Augen, und mein Kopf sich fühlt sich an, als wolle er platzen. Meine Luftröhre gleicht einem brennenden Stück Stroh. Der Boden unter unseren Füßen ist jetzt aus Holz. Bei jedem Schritt höre ich die morschen Planken knarzen; das Meer rauscht unter uns hinweg, als wolle es den Pier einreißen und uns mit sich ziehen.
Die Echos der ersten Befehle hallen über den Hafen. Portugiesische Worte mischen sich singend mit dem Klang der Wellen. „Nicht ablegen! Warten sie auf uns!“, ruft Lili. Ich bin unfähig, sie zu unterstützen und kann nur beten, ihr Ruf möge ankommen. Einer der Matrosen dreht sich zu uns um, er ruft seinen Kollegen etwas zu. Sie müssen die Treppe wieder ausfahren! Warum fahren sie die Treppe nicht wieder aus? Meine Frau rennt noch schneller und in ihrem Händedruck spüre ich etwas, das mir lange gefehlt hatte und jetzt, in dem Moment, in dem ich es wirklich brauche wieder da ist: Entschlossenheit.
„Warten sie auf uns!“, rufen wir zusammen, wieder und wieder, so laut wir können. Es hallt von den Planken, den Wellen, dem Stein und sogar von den Möwen wieder. „Ihr schafft es“, scheinen sie zu sagen, während die Treppe wieder ausgefahren wird und wir auf das Schiff stolpern. „Ihr schafft es.“
von Lisa Marie Barth