Siegfried Kracauer, Manuskript des Roman "Georg", 1934

Siegfried Kracauer: Georg
DLA Marbach, © Suhrkamp Verlag

Siegfried Kracauer, Manuskript des Roman "Georg", 1934

Junges Museum

Georg von Siegfried Kracauer

Ich sitze vor der Schreibmaschine und tippe einen Buchstaben nach dem anderen auf das Papier. Das monotone Tippen beruhigt mich ungemein. Tipp Klack Tipp Klack. Nach kurzer Zeit tauche ich in meine Fantasiewelt ein und vergesse alles um mich herum. Ich sehe ihn schon vor mir. Wie er, genau wie ich, vor seiner Schreibmaschine sitzt und schreibt. Mitten in der Nacht. In einem Haus, heruntergekommen und halb verfallen, von Kriegsgeschossen fast völlig zerstört.

Fred sitzt da und sieht mir zu, während ich den nächsten Artikel für den Morgenboten verfasse. Er handelt von den derzeitigen Zuständen in diesem Land. Ich muss darüber schreiben, wie sich die Zahl der Toten jeden Tag vervielfacht. Ich stelle mir vor, wie jemand einen Artikel wie meinen schreibt. Weil ich nicht mehr da bin. Weil ich sonstwohin verschleppt wurde. Nur weil Krieg war, hatte die Judenverfolgung nicht aufgehört, sie war sogar noch schlimmer geworden. Ich wusste, dass auch ich nicht sicher war, obwohl ich nicht jüdischer Herkunft war. Meine Liebe zu Fred und der Umstand, dass ich Journalist war, machten mein Leben sehr gefährlich. Ein Leben in ständiger Angst und Not. Ein Leben im nationalsozialistischen Deutschland.

Ich sehe auf. Fred drückt meine Hand als er merkt, woran ich denke. „Georg, mach Dir keine Sorgen. Du weißt, wir werden dieses Leben nicht mehr lange führen. Nächste Woche geht unser Zug nach Paris. So lange müssen wir noch durchhalten. Stark sein.“

In diesem Moment wurde die Tür eingetreten und ich hörte Freds Schrei und gebrüllte Befehle. Männer in dunklen Uniformen strömten in das kleine Zimmer. Ich sah das Rot des Hakenkreuzes und das letzte, was ich dachte, war: „Stark sein.“

Dann wurde mir schwarz vor Augen.

von Adrian Tetmann


Kracauer. Georg und Mrs Kohn

„Haben sie es endlich gefunden?“
Ich drehte mich um. Vom anderen Ende des Ganges kam Mrs Kohl zackigen, steifen Schrittes auf mich zu.
„Mr Kracauer, ich habe ihnen schon so oft gesagt, dass sie sich organisieren müssen! Eines Tages wachen sie auf und finden ihren Kopf nicht mehr. So kann das nicht weitergehen! Also rücken sie es raus, ich möchte noch vor Jahresende diese Abschrift beenden.“
Auffordernd streckte sie mir ihre Hand entgegen,
„Na?“
Ich strich mir mit der Hand über die Haare, und die Pomade klebte wie Honig an meinen Fingern, Ich hatte noch nicht einmal danach gesucht.
Ich deutete hinter mich und versuchte, einen möglichst selbstsicheren Eindruck zu erwecken,
„Es, - es - liegt in meinem Büro, ich habe nur vorhin vergessen es zu holen.“
Unauffällig stellte ich mich ein bisschen auf die Zehenspitzen, denn auch wenn sie meine Sekretärin war, und ich wesentlich größer, kam ich mir in ihrer Gegenwart immer sehr klein vor.
„Ich bin mir ganz sicher“, bekräftigte ich noch einmal . Sie zog die Augenbrauen hoch und zupfte ihre Bluse zurecht, dann drehte sie sich um und stöckelte von dannen. Ich lächelte, auch wenn Mrs Kohl mich mit ihrer militärischen Art und ihrem akkuraten Dutt immer sehr an eine Ballettlehrerin erinnerte, so war sie doch auch unverzichtbar. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um,
„Was gibt´s da zu grinsen, Kracauer? Morgen will und brauche ich dieses Manuskript, also sehen sie zu, dass sie es finden!“
Dann knallte sie die Tür ins Schloss.
„Ein aufgeräumtes Haus ist ein Zeichen für ein vergeudetes Leben“, murmelte ich vor mich hin, winkte der verschlossenen Tür zu und schlenderte gemächlich nach Hause.

Ich ging zum Fenster und zog die Gardinen zu. Keiner sollte jetzt noch sehen können was in Haus 105 der Lauw-Street vor sich ging. Mein Versteck musste geheim bleiben, ich wollte nicht dass meine Büchern dasselbe zustoßen würde wie denen meiner Kollegen. Lili sagte immer, das sei paranoid, da der Krieg doch längst vorbei wäre, aber ich hatte dieses Versteck schon angelegt als wir in die Lauw-Street eingezogen waren. Auf unserer Flucht aus Deutschland hatte ich aus jeder noch so schäbigen Ecke ein Versteck für meine Dokumente und Bücher gemacht. Jedes Versteck war gut gewesen, aber keines war so gut wie dieses! Und Lili konnte sagen, was sie wollte, ich war nicht gewillt, es aufzugeben, nur weil der Krieg vorbei war.

Ich kniete mich vor den Kamin, kehrte den Ruß und die Asche ein wenig zur Seite und kroch hinein. Vom Kamin aus ging ein Tunnel bis in einen kleinen Raum. Der Raum war ungefähr so groß wie ein Esstisch und die Decke war unheimlich tief. Es war stockfinster, doch ich wusste, dass ich gleich neben dem Eingang ein paar Kerzen und Streichhölzer platziert hatte. Ich verbrannte mir fast die Finger, doch endlich wurde der Raum in einem schummrigen Licht erleuchtet. Ich war ewig nicht mehr hier gewesen, doch alles war noch genau wie früher. Überall waren Bücher gestapelt oder auf dem Boden verteilt, eine richtige Ordnung gab es nicht, der Raum hatte seine eigene Ordnung, gegen die nicht mal Mrs Kohl etwas hätte ausrichten können. In einer Ecke lagen zwei Kissen, sogar ein Glas mit einem verbliebenen Schluck Wein stand noch da, und von irgendwo war ein leichter Luftzug zu spüren. In diesem Raum war es einfach, als würde die Zeit still stehen.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn ich fand mich auf den Kissen neben den mittlerweile fast abgebrannten Kerzen wieder. Ich fluchte, denn wenn die Kerzen ausgingen, konnte ich die Suche nach dem Manuskript vergessen! Ich drehte mich auf die Seite und schlug mir den Kopf an. Schmerz durchzuckte mich und da sah ich es, es lag neben einer Schachtel „Eaton’s Corrasable Typewriter Paper“. Der handgeschriebene Titel fiel mir ins Auge, als wolle er sagen: „Na? Hast du gedacht, du könntest die Vergangenheit vergessen, nur weil die Zukunft Neues bringt?“ Alles drehte sich, alle Erinerungen stürzten auf mich ein: Lili, sie schreit, ich nehme ihre Hand, mein Bruder Georg, wie er blutend und sterbend am Boden liegt, die Frau mit dem Hakenkreuz, die zwei Kinder schlug, nur weil sie um Gnade bettelten, Hitler bei einer seiner Ansprachen, die grölende Menge, die Braunhemden, die in unsere Wohnung stürmen wie mein Freund sie mit dem Hitlergruß grüßte, Züge voll weinender Kinder und ...

Dann erlosch die Kerze.

von Amelie Itschert