[Deckblatt]

Arnold Zweig:

Bilanz der deutschen

Juden 1933

Ein Versuch

*

Den Ahnen zur Ehre,

Den Vertriebenen zur Bestätigung,

Den Söhnen zur Erinnerung,

Den Enkeln zum Wundern.

 

Sanary, Sommer 1933

[nachträglich hinzugefügt:]

Menachem Foguelson zur Erinnerung an Arnold Zweig

Haifa 1935

[Auszug aus Seite 1]

V o r r e d e .

Man schreibt eine Vorrede, wenn das Buch fertig ist. Dankbar gedenkend der verschiedenen Orte, die emigrierte Schriftsteller aufnahmen – besonders der bedrohten Stadt Wien, ihrer Menschen, ihrer Landschaft – fragt man sich, ob der so hingebrachte Frühling, Sommer gute angewandt war.

Die Antwort gebe der Leser, gebe die Wirkung dieses Buches. Es erscheint sehr verspätet. Aber das Niveau, auf das Deutschland inzwischen heruntergewirtschaftet ward, zwang einen an sich Unvorsichtigen zur Vorsicht für Verwandte und Freunde. Ein schönes Zeichen feiger Verwilderung ist diese erzwungene Verzögerung, wahrhaftig.

[…]

[Auszug aus Seite 2]

Um eine Wirklichkeit darzustellen, die versunken ist, muss man ihr ihre Voraussetzungen lassen; dies tut dieses Buch im Verlauf seiner Darstellung. Um den Untergang einer Wirklichkeit zu verstehen, muss man ihre Voraussetzungen kritisieren. Dies tut dies[e] Vorrede in ein paar Sätzen. Die deutschen Juden hatten kein Bewusstsein ihrer Lage. Sie wussten nicht, dass ihre Emanzipation von der Vertragstreue des deutschen Kleinbürgertums abhing. Sie ignorierten die Tatsache, dass sie keinerlei Macht in Händen hatten, diese Vertragstreue zu erzwingen. Sie überschätzten Masslos die Achtung vor Rechten, Gesetzen und Verfassungen in Zeiten wirtschaftlicher Bedrängnis. Sie begriffen nicht – und wir konnten es ihnen nicht einhämmern – dass sie auch als Aerzte, Anwälte und Schriftsteller keinerlei Zugriff zu den wirklichen Produktionsmitteln dieser geistigen berufe hatten, wenn eine wirkliche Macht sie ihnen kündigte. Sie begriffen nicht und begreifen es heute noch nicht, dass sie, dem Kern der Sachlage nach, Proletarier sind – Proletarier in einer dicken Hülle bürgerlicher Kultur. Hätten ihnen diese weichen Polster nicht unmöglich gemacht, die Wirklichkeit abzutasten, hätten sie mit dem Proletariat, welches allein ihnen ihre Freiheiten verbürgte, gemeinsame Sache gemacht, – wer weiss , ob dann nicht die Politik der Republik eine andere Wendung genommen hätte.

[…]

 

[Auszug aus Seite 4]

E i n l e i t u n g

Der Einbruch der Gewalt in das öffentliche Leben.

Warum ich dieses Buch schreiben muß. Gewiß ist die Zerstörung der deutschen Judenheit, die wir staunend an uns selber miterleben, wir Zeitgenossen des Frühjahres 1933 – gewiss ist die Unterdrückung, Beschmutzung, wirtschaftliche Vernichtung eines schöpferischen Bestandteiles der deutschen Bevölkerung ein Ereignis, wert, von der Welt genau betrachtet zu werden. […]

 

[Auszug aus Seite 5]

 

[…] der Ursprung der heutigen Einstürze liegt in jenem Augenblick, als in das Leben Europas das Prinzip der Gewalt wiedereingesetzt wurde. Gleichsam rechtmässig trat es auf und mit dem Anspruch, das einzige Mittel zur Lösung schwerer Streitfälle im Völkerleben zu sein: Einbruch des Krieges in die Welt von 1914.

[…]

 

[Auszug aus Seite 7]

[…] Fünfzig Jahre lang, seit 1871, galt in Europa das Recht. Immer größere Kreise, immer stärkere Interessengruppen mußten sich diesem Rechtsgedanken unterwerfen; noch einer kleinen Anstrengung vielleicht hätte es bedurft, und auch Zwischenfälle zwischen Staaten, wie jener am 29. Juni 1914 in Serajewo[!] geschaffene waren auf friedlichem Wege zu lösen. Daß diese verhältnismäßig kleine Anstrengung nicht zustande kam, daß noch einmal der dynastische Wahn in zwei, drei Dutzend Gehirnen zur schicksalsbildenden Kraft für ganz Europa aufwuchern konnte, – das ist die Mitschuld der deutschen Juden am Werden ihrer eigenen Katastrophe. Wir alle müssen dies zuallererst eingestehen. Nichts ist so unfruchtbar, wenn auch erleichternd, wie die blinde Anklage gegen Mächte ausserhalb unserer selbst. Nichts ist so befreiend und befruchtend, und nichts entspricht so sehr der tiefen Lebenserfahrung innerhalb unseres jüdischen und menschlichen Daseins wie die Prüfung des eigenen Gewissens und die Erkenntnis einer Mitschuld am Ablauf der Dinge. Was immer seither geschah, was immer heut und morgen an uns geschieht: damals halfen wir die Wurzeln setzen.

Dieses Buch wird versuchen, darzulegen, wie es dazu kam. Es wird diese Wurzeln aufzudecken suchen und, indem es den prüfenden Blick auf die Ereignisse von 1933 richtet, ohne Blendung durch Leidenschaften, ohne Abschwächung durch Rücksichten, der Sache selbst zu dienen suchen. Erkenntnisse finden ist die Aufgabe aller Erwachsenen. Erwachsen sein heißt unter anderem, der Erkenntnis fähig sein. Freilich stehen die menschlichen Gruppen den Kindern geistig näher als dem ausgereiften menschlichen Einzelwesen, das seine Leidenschaft zügeln und von ihnen ihr immer wieder den Nachweis der Berechtigung verlangen kann. Wozu aber leiden wir, wenn nicht um der Einsicht willen, und aus was für Stoff wären unsere Seelen, wenn der Anhauch des Schicksals nicht dazu tauchgte, das Kindische zu verbrennen, das Männliche und Weiblich aber auszureifen, großzuziehn ? Wir sind Zeigen einer ausserordentlichen Wendung im

Leben

[Seite 8]

Leben eines großen Volkes, einer mächtigen, reichen, von geistigen Kräften strotzenden Gemeinschaft. Zeugen haben die Pflicht zu sprechen. Und die Wahrheit im Munde eines einzigen Menschen ist mehr wert und dauert länger als die Macht in den Händen von Hunderttausenden. Der uralte Kampf zwischen den sittlichen Kräften, verkörpert in der reifen menschlichen Seele, und der Lebenssubstanz, herrschend in den losgelassenen, triebgeschwellten Menschengruppen Massen, muß wieder einmal angeleuchtet werden. Seine Entscheidung auf kurze Sicht scheint immer wieder der Macht zu gehören; seine Entscheidung auf lange Sicht gehört seit Jahrtausenden der Einsicht. So treten wir den Gedankenweg an, der geheissen ist: Bilanz der deutschen Judenheit.

 

[Auszug aus Seite 9]

I. Teil:

Beschreibung einer Sachlage.

1. Was seit dem 27. Februar 1933 in Deutschland geschah.

Nur ins Gedächtnis zu rufen braucht man den Zeitgenossen, was geschah, als die Gewalt die bewaffnete Macht eines Parteiheeres zum entscheidenden Werkzeug und zur alleinigen Rechtfertigung der Politik eines gebildeten Volkes von sechzig Millionen [handschriftlich 1 Wort eingefügt:] Menschen im Herzen des europäischen Kontinents wurde. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar wird von unbekannten Tätern im Gebäude des deutschen Reichstags ein rätselhafter und sinnloser Brand gelegt. […] Es kommt zu judenfeindlichen Demonstrationen vor Warenhäusern und jüdischen

Geschäften.

 [Auszug aus Seite 10]

Geschäften, die zum Boykott auffordern, vorzeitige Ladenschliessungen erzwingen, die Käufer am Betreten der Geschäfte verhindern. Gewalttätigkeiten auf offener Strasse sind überall [3 Wörter handschriftlich eingefügt:] in bestimmten Bezirken zu verzeichnen. Die deutsche Presse steht bereits unter schärfstem Druck; alle großen Zeitungen der internationalen Welt aber verbreiten alsbald überaus erregende Mitteilungen, grauenhaften Einzelheiten aus den Arbeitervierteln, blutige Mißhandlungen und Ermordungen der politischen oder jüdischen Gefangenen. Man legt sie der stürmischen Bewegung dieser Tage zur Last – einer Bewegung, die sich selbst di „Die deutsche Revolution“ nennt oder auch „Die nationale Erhebung“. Den ganzen Monat März hindurch bemächtigt sich die siegreiche Partei aller Machtstellen im Staat, im Reich und in den Gemeinden; die gesamte Sichtbarkeit des deutschen Lebens wird in folgerichtigen Aktionen von den neuen Machthabern [1 Wort handschriftlich eingefügt:] ihr besetzt. Diese Machthaber sind [2 Wörter handschriftlich eingefügt:] Sie ist vom ersten Augenblick ihrer Tätigkeit an gegen das Judentum der Welt aufgetreten. […]

[Auszug aus Seite 11]

[…] Als nun gar einzelne jüdische Männer von Weltruf, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, in diesen Protest miteinstimmen, behauptet das neue Regime, es werde von einer „jüdischen Greuelhetze“ in der Welt verleumdet und müsse, zur Abwehr und den Kampf aufnehmend, das deutsche Volk zum Boykott der deutschen Juden zusammenfassen. So wird am 1. April in ganz Deutschland der offizielle Trennungsschnitt zwischen Deutschen und Juden vollzogen. Die Geschäfte jüdischer Bürger, die Kanzleien jüdischer Anwälte, die Namensschilder jüdischer Aerzte, die Werke jüdischer Schriftsteller werden geächtet und verfemt, die Träger jüdischer Namen aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. An diesem Tage, dem 1. April, bewies das deutsche Volk zweierlei. Erstens, daß es sich widerstandslos jeder Massregel der neuen Macht fügen werde, zweitens aber, daß es bei all seiner Passivität in seiner Masse ein zivilisiertes, gerecht und billig empfindendes europäisches Volkswesen geblieben sei. Denn was in diesem Monat März an Verhetzung, wüster Entflammung von Masseninstinkten, schamloser und strafloser Aufreizung zu Gewalttaten aus allen Lautsprechern des deutschen Reiches, allen Zeitungen des neuen Regimes auf dieses Volk losgelassen ward, liegt aktenmässig fest, es geschah vor den Ohren der ganzen Welt und war doch nicht imstande, jene Welle von Blut und Terror [1 Wort handschriftlich eingefügt:] Pogrom hervorzurufen, die darauf eigentlich hätte antworten müssen [4 Wörter handschriftlich eingefügt:] die beabsichtigt worden war.

[Auszug aus Seite 16]

[…] Die deutschen Studenten von 1933! Ihr Geist wird am besten gekennzeichnet durch jen[e] berühmte Bücherverbrennung in den meisten Universitätsstädten, bei denen die Werke jüdischer und freiheitlicher Schriftsteller unter schwülstigen Sinnsprüchen dem Feuer übergeben wurden – [1 Wort und Satzzeichen handschriftlich eingefügt:] nachts, in voller Oeffentlichkeit, zwischen Fackeln, Rundfunksendern und Filmkameras, die das [1 Wort handschriftlich eingefügt:] tapfere Ereignis [1 Wort handschriftlich eingefügt:] festhielten. der gesamten Oeffentlichkeit dieses Globus übermitteln. Dies und der berühmte Aufruf deutscher Frauen: , in dem sie behaupten, die Juden seien nicht nur am Weltkrieg schuld, sondern auch am Zusammenbruch von 1918, an der bolschewistischen Revolution und am Frieden von Versailles, vollende das Bild eines Landes, das einst Deutschland hieß. Die Emanzipation der deutschen Juden, seit Moses Mendelssohn mit schweren Opfern erarbeitet, wird am 1. April 1933 praktisch und theoretisch aufgehoben, das Mittelalter tritt wieder in Kraft.

[…]