[hs.]

[erstes Blatt, Vorderseite]

Peter Weiss: Brief an die Eltern

Carabbietta [sic!] im Tessin, Weihnachten 1938

Meine Lieben, an Stelle eines wirklichen Weihnachtsgeschenkes will ich euch einen langen, ganz ausführlichen Brief schreiben, in dem ich euch ein wenig mein tägliches Leben hier schildern will. Ich will mir einen Tag vornehmen u. ihn euch vorführen, damit ihr wisst, wie ich hier hause u. wie es mir geht – wo wir uns jetzt schon so lange nicht mehr gesehen haben – vier Monate schon nicht mehr. Noch vier Monate werde ich hier bleiben u. dann kehre ich ja wieder einmal in den Schoss der Familie zurück u. dann kann ich euch alle meine Arbeiten zeigen.

Mein Tag hier beginnt zu dieser Zeit gegen 8 Uhr, manchmal auch halb neun oder gar neun. Ich schlafe also verhältnismässig lange, weil ich lange aufbleibe abends – doch davon soll jetzt noch nicht die Rede sein. Gegen 8 also scharren draussen die beiden Schäferhunde an der Tür, sie balgen sich u. machen viel Lärm, da wache ich auf. Ich bleibe noch im Bett liegen, allmählich kommt das Leben in mich, ich sehe die Staffelei, auf der ein angefangenes Bild steht, ich betrachte es, denke darüber nach u. finde allmählich, dass es an der Zeit ist, aufzustehen.

Ich ziehe also meine Strümpfe an, gehe durch das grosse, saalartige Zimmer zum Baderaum, wasche mich, gehe hinunter zur Küche u. koche mir Tee. Während das Wasser kocht, gehe ich in den kleinen Garten, sehe nach dem Himmel – jetzt ist es morgens immer sehr kalt Reif auf dem Gras.

Mein Frühstück besteht aus Weissbrot mit Butter u. Marmelade, dazu Tee.

Wenn diese Mahlzeit beendet ist, kommt meistens gerade die Post – obgleich sie sich auch oft verspätet. Das Postmädchen, Carla, schwatzt halt mit jedem ein wenig u. nimmt es mit der Zeit nicht so genau. Dann lese ich meine Briefe u. steige wieder hinauf. Jetzt geht’s ans

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Malen. Wenn die Sonne scheint, male ich im oberen Flur, da ist es dann sehr warm, sonst bleibe ich in meinem grauen, grossen Atelier u. heize den Ofen ein. Vormittags male ich immer, bis zum Mittagessen gegen halb eins.

Dann wasche ich die Pinsel u. meine Hände u. gehe [drei Worte gestrichen] zur Mittagstafel. Es gibt immer etwas gutes zu essen, Suppe, ein Gericht mit Fleisch u. eine Süssspeise – und sehr reichlich. Die Mahlzeit dehnt sich immer lange aus, Tischgespräche würzen das Essen auf das Angenehmste. Frau Olly Jacques ist sehr nett, klug, originell, interessant. Dann ist eine Deutsche Emigrantin noch da, ein kluges, witziges, älteres Fräulein, Dr. jur., dann sind die Hunde dabei, die manchmal einen Knochen bekommen, oder ein Stück Fett. Nachmittags zeichne ich, ich habe viel illustriert, Illustrationen zu Verlaine, dann damals viel für Hesse u. dann auch Illustrationen zu eigenen Werken. Manchmal gehe ich auch hinauf nach Montagnola, wo ich immer gut aufgenommen werde u. willkommen bin. Da ist vor allem Hesse, dann ist da Frau Geroë, die Teppichweberin, dann die Familie des Dr. Müller, die mich besonders in ihr Herz geschlossen haben u. wo ich richtig dazu gehöre; feine, liebe Menschen, bei denen ich mich immer sehr wohl fühle. Dann habe ich noch eine Bekannte, eine merkwürdige – nach bürgerlichen Normen: etwas verrückte – Frau, Frau Emmy Ball-Hennings (vielleicht ist Mamita ihr Name oder der ihres Mannes Hugo Ball noch von der Bühne her bekannt). Sie wohnt in der Nähe von Carabbietta [sic!] in einem alten Haus am See, eine Dichterin, Malerin – auch eine enge Freundin von H.H. Da gibt es oft stundenlange Gespräche, von denen ich immer sehr angeregt u. bereichert zurückkehre. Sie hat wunderbare Gedichte geschrieben u. gerade ein Buch herausgegeben über ihre Kind-

[zweites Blatt, Vorderseite]

II

heit – sie ist Flensburgerin – das mir sehr gut gefallen hat. Es heisst: Blume und Flamme. Von Montagnola nach Carabietta ist es ein schöner Weg, oft komme ich spätnachts zurück, mit einer Taschenlampe leuchte ich mir, doch jetzt ist es recht hell, die Bäume sind ja ganz kahl u. wenn der Vollmond leuchtet, ist solch ein Weg märchenhaft schön.

Von weitem sehe ich dann schon das heimatliche Haus liegen, ganz hell am Rand des Weinberges.

Wenn ich nachmittags gezeichnet habe – bis es dunkel geworden ist, gehe ich noch spazieren, allein, oder mit den Hunden: Phöbo u. Krack. Am See entlang auf der Landstrasse, da ist ein Weg, der jedes Mal wieder sehr schön ist u. nie langweilig wird. – Gegen sieben Uhr esse ich dann, oben in meinem Zimmer, Käse, Wurst, Brot, etwas Obst. Dann rauche ich manchmal, wenn mir danach zumute ist: zur Feier des Tages zu sagen, eine Zigarette, gehe in meinem Atelier auf u. ab, bedenke die Tagesarbeit u. plane neues für den nächsten Tag. Gerhard wird es interessieren, dass ich dann auch singe u. dass ich dann immer daran denke, wie hübsch es wäre, wenn er dabei wäre u. mitsingen könnte. Nach dem Essen lese ich, oder ich schreibe Briefe, oder ich schreibe für mich. Manchmal auch zeichne ich noch – wenn ich nachmittags fort war, oder ich schreibe an meinen Arbeiten bis in alle Nacht hinein u. vergesse dabei die Zeit. Bis mir dann die Augen zufallen u. ich mir gerade noch die Zähne putze u. ins Bett sinke u. gleich einschlafe.

So ungefähr ist ein Tag hier aus meinem Leben. Und ich muss sagen, ich bin recht zufrieden, ich fühle mich gut, kann arbeiten, habe Ruhe, ein warmes Zimmer, gutes Essen, gute Bücher, liebe Bekannte, eine herrliche Landschaft ringsum, reine, klare Luft – u. doch: restlos glücklich bin ich nicht immer, aber das

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muss ja so sein. Mit der blossen Zufriedenheit ist es ja auch nicht getan. Aber ich bin dankbar, der ich dieses Leben leben kann – u. dass ich jetzt noch vier Monate vor mir habe ist schön. Was dann wird – darüber soll ich mir heut’ noch nicht den Kopf zerbrechen!

Wenn ihr jetzt an mich denkt, dann müsst ihr euch mich anders vorstellen: weil ich glaube, dass ich mich sehr verändert habe, fand ich es zu billigen, mich auch äusserlich zu verändern. Ich habe mir nämlichen eine Schnurrbart stehen lassen. Ich braucht nicht in Ohnmacht zu fallen. Gerade der Weiblichkeit, soweit ich mit derselben hier überhaupt in Berührung komme, gefällt er ganz gut. Gerhard würde sicher sagen: Pfundig!

So ungefähr sehe ich aus, wenn auch nicht ganz so grimmig!

Nun noch zu einer anderen Angelegenheit.

Wegen meiner Bilder in Prag habe ich mir lange überlegt, was damit am besten zu tun sei. Sie könnten noch in der Akademie bleiben – wenn ich das nächste Semester wieder belegen würde – das müsste ich tun, wenn ich meinen Pass im Sommer verlängert haben wollte u. noch ein Jahr Aufschub bekommen wollte. Dieses Militär ist wie ein Fluch, es würde eine solche Kluft in meine Arbeit reissen, dass ich nicht weiss, wie ich das überstehen u. überbrücken könnte. Vielleicht ist es doch am besten, ich suche noch mal um Aufschub an (jetzt bald) u. ich bin sicher, dass ich ihn bekommen werde. Nur muss ich dann noch ein Semester in der Akademie, u. z. das am 1. März beginnt, belegen, um den Studiennachweis zu bekommen, ich würde das mit Nowak schon vereinbaren können u. Kien würde alles für mich erledigen. Dann hätte ich wieder ein Jahr gewonnen u. bis zum übernächsten Herbst kann ich ja weit sein! Ich will alles versuchen, um davon los zu kommen. – Andrerseits könntet ihr die Bilder jetzt noch als »Umzugsgut« zollfrei herüberbekommen, wofür ich später nur viel Zoll zahlen müsste, da ich ja ziemlich wertvolle Rahmen habe. Dann wäre es vielleicht doch gut wenn ein Spediteur unter Kiens Aufsicht und Hilfe die Bilder verpacken würde u. an euch schickte? Denn einmal müssen sie ja doch fort. – Ich glaube, innerhalb von 2 Monaten können Sendungen noch zollfrei abgehen, als Umzugsgut. – Schreibt mir, was ihr davon haltet.

Ich fahre nicht nach Zürich, oder erst Anfang Januar, u. dann will ich sehen, ob ich einen Kunsthändler interessieren kann. Hier eine Ausstellung zu bekommen, wäre natürlich sehr schön. Was seht ihr in Schweden für Möglichkeiten darin? Und vor allem: Was habt ihr für Staatsbürgerschaftsmöglichkeiten?

[Drittes Blatt, Vorderseite]

III

Doch jetzt genug von diesen Dingen. Aber man kommt davon nicht los. Nicht einmal Weihnachten. Allerdings: so richtig dieses Fest feiern kann man ja auch garnicht mehr; man würde sich fragen: wozu? Es steht einem heute nicht der Sinn nach solchen Festen. Früher, als wir kleine Kinder waren, da war es ja sehr schön, Weihnachten ist das Fest der Familienzusammengehörigkeit, denn selten hat man so das Gefühl des Zusammengehörens, als wenn man gemeinsam vor dem Weihnachtbaum steht, Eltern u. Kinder. Heute ist einer hier in der Welt, der andere dort, ihr Armen sitzt vielleicht immer noch in dem Pensionszimmer – doch hoffentlich, hoffentlich bald im neuen Haus!

Ich bin in Gedanken am Heiligabend bei euch.

Wir haben jetzt Schnee, ein seltsamer Anblick in dieser Landschaft. Am Heiligabend werde ich entweder bei Hesse oder bei Dr. Müller sein. Zur Christmette gehe ich dann in eine kleine Dorfkirche.

Beim Dr. Müller bin ich oft oben. Mit seiner Tochter male ich zusammen u. überhaupt gehöre ich schon ganz zur Familie. Oft bleibe ich den ganzen Tag oben, male morgens u. nachmittags u. Lore, die Tochter, profitiert natürlich davon, sie ist noch jung, hat noch nicht die richtige Ausbildung u. braucht Anleitung u. Anregung. Kürzlich haben wir ihr Atelier, dass wir in einen alten Ziegenstall eingebaut haben gemalt. Es sieht sehr hübsch aus, man merkt ihm den Ziegenstall nicht mehr an, die Wände gestrichen, Wandbehänge, ein grosses Fenster, Ofen u.s.w. Ich habe auch viel Freude an den Interieurs, ich lerne viel, was die Farben betrifft, dazu u. meine Malweise wird freier u. leichter. Das kleine Atelier sieht so aus:

Weihnachten bis Neujahr kommt auch eine Dame, die ich hier kennengelernt habe (die auch Ruth jetzt kennengelernt hat), ich freue mich schon darauf, wir werden draussen viel zusammen zeichnen u. malen.

Bleibt Irene in Brünn?

Eben komme ich von Hesses zurück. Wieder ein wunderbarer Nachmittag. Wir hörten Mozart u. Bach auf dem Grammophon, ich zeigte ihm neue Zeichnungen, die er lobte. Überhaupt bin ich so glücklich, dass ich bei Hesse sein kann, dass man sich oben immer über meinen

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Besuch freut. Wie hätte ich mir das früher je träumen lassen, oben bei dem verehrten Manne zu Besuch sein zu können – u. womöglich gar den Heiligabend jetzt mit ihm zu verbringen. Solch ein Besuch bei Hesse ist für mich jedesmal wieder ein Erlebnis u. ungeheuer bereichert kehre ich zurück. Alle alltäglichen Sorgen u. Unbehagen sind dann so klein u. nichtig. Auch seine Frau habe ich gerne – u. sie mich sicher auch, sie erkundigt sich immer sehr nach euch, ich habe ihnen natürlich von euch vieles erzählt.

Heute war der Weg besonders schön. Alles voll Schnee u. der Himmel dunstig, unten von Lugano her viele Lichter u. auch am ganzen See entlang.

Jetzt will ich diesen langen Brief schliessen. Das kleine Blatt, dass ich einlege, wuchs draussen vor meinem Fenster.

Ich wünsche Euch alles, alles Gute, seid umarmt u. geküsst von euerm Peter.

Hier noch eine kleine Bildergalerie:  

Maler Weiss Tête

Maler Weiss im Garten

Maler Weiss in voller Grösse

Die Tochter des Dr. Müller mit ihrer kleinen Tochter