[handschriftlich, mit lila Farbstift unterstrichen:] Neue Fassung Doppel

Otto Nebel, Bern, Weissenbühlweg 15, Schweiz.
[mit lila Farbstift unterstrichen:] Anfang März 1957.
(Bis zum Mai 1933 wohnhaft gewesen in Berlin-Charlottenburg, Sesenheimerstraße 30.)

Kurze Lebensbeschreibung.

Otto Nebel, Kunstmaler und Schriftsteller, geboren zu Berlin am 25.XII.1892, reindeutscher Herkunft. Vater: Otto Wilhelm Nebel, verstorbener lei[t]ender Beamter im Hause der Chemischen Werke SCHERING, Berlin, Müllerstraße, jetzt SCHERING & KAHLBAUM. Mutter Sophie, geborene Müller, verstorbene Tochter des weiland Tierarztes Wilhelm Müller, Berlin.
Ich erlernte nach Verlassen der höheren Schulen in Berlin das Hochbaufach und wurde nach abgelegter Meisterprüfung auf der Berliner Baugewerkschule und nach Lehrgängen an der Technischen Hochschule Charlottenburg, Bauzeichner und Architekt.
1914 bis 1918 Kriegsdienst, immer in den vordersten Linien: in Flandern, Frankreich, Ungarn (Karpaten), Siebenbürgen, Rumänien, Italien und wieder in Frankreich. Eisernes Kreuz und Oesterreich[isch]es Verdienstkreuz für Offiziere. Gefangennahme am 8. August 1918 im Gefecht bei Péronne. Danach 14 Monate Kriegsgefangenschaft im Prisoners-of-war-camp Colsterdale near Masham, Yorkshire. Schrieb und malte in der Gefangenschaft und machte beide Werkzuchten von da ab zum HAUPTBERUFE. Veröffentlichte 1920 in der bekannten Berliner Kunstzeitschrift DER STURM, Herausgeber Herwarth Walden, meine scharfe Satire gegen den Angriffskrieg: Zuginsfeld. Reisen in Frankreich, in der Schweiz und in Italien und längere Arbeitsaufenthalte daselbst. Kurt Liebmann, ebenfalls Mitarbeiter am STURM, veröffentlichte die beifolgende Schrift: „Der Malerdichter OTTO NEBEL“, Verlag Orell Füssli, Zürich und Leipzig, 1935.
Seit Mai 1933 wohnhaft in Bern. Schweizerbürger seit 1952.
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Wir haben Deutschland aus politischen und weltanschaulichen Gründen verlassen müssen. Nachdem wir unsere Wohnung in Berlin-Charlottenburg, Sesenheimerstraße 30 aufgegeben, Möbel, Hausrat und meinen großen Werkbestand an Bildern, Blättern usw. bei Freunden verteilt und untergestellt hatten, reisten wir im Mai 1933 in die Schweiz. In Zürich lebten Schwester und Schwager meiner Frau, die uns Hilfe und Unterstützung zusicherten. Wir wohnten zuerst in Muntelier bei Murten am See und zogen Oktober 33 nach BERN.
Den Entschluß zur Auswanderung hatten wir bereits im Januar gefaßt, als die „Machtübernahme“ durch Hitler feststand. Wir erlebten, daß viele
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Freunde von uns verfolgt und verhaftet wurden. Ich gehörte unter anderm zu der Abordnung, die Ossietzki und Mühsam bis zum Gefängnis begleiteten. Ich erlebte als Schriftsteller die Auflösung des PEN-Klubs in Berlin. Als Mitarbeiter des STURM gehörte ich zum Vortrupp der Bahnbrecher der Neuen Kunst. Herwarth Walden und einige andere jüdische Künstler waren Freunde von uns. Wir standen in enger Bindung mit dem BAUHAUSE in Weimar (später in Dessau). Der Kampf und die Maßnahmen des Nationalsozialismus gegen die Neue Kunst, insbesondere gegen die verfehmte ungegenständliche MALEREI nahm immer schärfere Formen an. Meine freie, europäische Einstellung bekannte ich öffentlich in Wort und Schrift, in Vorträgen und Veröffentlichungen im STURM. Auch in Tageszeitungen waren Arbeiten von mir erschienen. Kandinsky und Klee, mit denen ich durch den STURM verbunden war, wurden am BAUHAUS entlassen. Die Drohungen gegen die Neue Kunst trafen auch mich. Unser Hauswirt, den wir sehr schätzten, war Jude, und wohlhabende jüdische Mieter wohnten in unserm Hause. Durch den neu-eingesetzten Hauswart wurden wir ständig beobachtet und bespitzelt. Wir fühlten uns nicht mehr sicher in unserer Wohnung. Es war in jeder Weise unerträglich und aufreibend. Seelischer Druck und wachsende Angst hemmten in steigendem Maße unsere Arbeits-und Lebenskraft. Mein inzwischen verstorbener Freund Dr. Stienen, Staatsanwalt, riet uns dringend, Deutschland zu verlassen, da er meine freie, offene Gesinnung kannte.
Selbst in der Schweiz gelang es uns schwer, uns von dem Druck zu befreien. Durch das jahrelange ARBEITS-VERBOT kamen neue zermürbende Zustände und Sorgen, die erst mit unserer Einbürgerung 1952 abnahmen. Von unserm Hausrat konnten wir nur zahlenmäßig geringes Stückgut mit in die Schweiz nehmen: zwei Betten, etwas Wäsche und Bestecke und nur wenige von meinen Bildern waren uns erlaubt einzuführen, was für mich eine besonders schwerwiegende Schädigung war.
Der gesamte Hausrat unserer sehr gediegen ausgestatteten Zweizimmerwohnung in Charlottenburg, mein umfangreiches Frühwerk an großen Gemälden, Blättern, Schriften, Drucken usw. und unsere Büchersammlung von beträchtlichem Umfange und Werte stellten wir in Lagerräumen unseres inzwischen verstorbenen Freundes Richard Heckhausen unter. Als dessen Betrieb am Alexanderplatz durch Bombenangriffe gefährdet war, brachte er die Sachen im Keller seiner Wohnung im Tiergartenviertel, Keithstraße, unter. Alles wurde bei einem schweren Angriff völlig vernichtet. Frau Hanny Heckhausen, Ludwigshafen, am Bodensee, kann diese Angaben bestätigen. Außer dem Verlust an Hab und Gut brachten uns die vielen Jahre der
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Verbote beruflicher Wirksamkeit schwerste Schädigungen an Lebens- und Einsatzkraft, die wir in unserm Alter nicht mehr aufholen können. Vermögen ist nicht vorhanden. Auch meine Frau, die mir durch Unterricht in den Jahren vor 1933 wesentliche Hilfen leistete wirtschaftlich, verlor 1933 ihren gesamten Wirkungskreis und durfte in der Schweiz ebenfalls ihren Sonderberuf nicht ausüben. Sie war die bewährte Lehrhilfe der Forscherin GERTRUD GRUNOW am BAUHAUSE, und in Berlin deren Vertreterin. (Siehe beigefügte Urkunden).
Wir ersuchen höflich, unsern Fall den maßgebenden Behörden für Wiedergutmachung in Berlin zu unterbreiten.