Kontingentflüchtlinge
Mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre Familien zogen in den Neunzigerjahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Eine jüdische Emigration nach Deutschland hat es offiziell allerdings nie gegeben. 1991 […] wurden Gesetze verabschiedet, die es osteuropäischen Juden ermöglichten, einzuwandern. Man behandelte uns nach dem sogenannten Kontingentflüchtlingsgesetz. Man gab uns Asyl und eine Aufenthaltserlaubnis, nahm uns aus "humanitären Gründen auf", als wären wir Kontingentflüchtlinge.
Erica Zingher, Kontingentflüchtlinge: Meine Oma arbeitet nicht, sie schuftet, 2019
Als Kontingentflüchtlinge werden Flüchtlinge bezeichnet, die aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen in einem festgelegten Kontingent nach Deutschland einwandern dürfen. Nach der Einreise erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis ohne ein Asylverfahren, ihr Wohnsitz wird jedoch zugeteilt. Die Bundesrepublik Deutschland nahm zum Beispiel 1979 (und in den Folgejahren) im Rahmen dieses Abkommens Flüchtlinge auf, aus Vietnam geflohen waren.
Bei der Auflösung der Sowjetunion kam es vermehrt zu antisemitischen Übergriffen. Die DDR wollte mit Blick auf die geschichtliche Verantwortung nach der Shoah der jüdischen Minderheit einen Zufluchtsort bieten. Nach der Wiedervereinigung griff die Bundesrepublik das Vorhaben auf und schuf 1991 einen gesetzlichen Rahmen, der es Jüdinnen und Juden aus den ehemaligen Sowjetgebieten ermöglichte, als Kontingentflüchtlinge einzureisen. Die Bezeichnung „jüdische Kontingentflüchtlinge“ wird allerdings kritisiert, unter anderem vom Journalisten Richard Herzinger, „handelt es sich bei ihnen doch um […] Übersiedler, die unter humanitären Vorzeichen eingeladen wurden, auf Dauer in Deutschland zu leben.“ (in „Wer willkommen heißt, trägt auch Verantwortung“, Die Welt, 20.2.2019)
2004 endete die Vereinbarung. Bis dahin kamen mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden nach Deutschland. Nach Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung waren im Jahr 2017 mindesten 90 Prozent der jüdischen Gemeinde Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion.
In den letzten Jahren gab es unter anderem Kontingente für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien.
Weiterführende Literatur:
Körber, Karen (Hg.): Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2015.
Fleckenstein, Jutta und Kleiner, Piritta (Hg.): Juden 45, 90. Von da und dort – Überlebende aus Osteuropa / Von ganz weit weg – Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Ausstellungskatalogs des Jüdischen Museums München. 2 Bände. Berlin: Hentrich & Hentrich 2011 und 2012.
Belkin, Dmitrij: Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Bundeszentrale für politische Bildung, erschienen am 13. März 2017auf bpd.de
Belkin, Dmitrij und Gross, Raphael (Hg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Begleitpublikation zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2010.