Das andere Deutschland

Programmplakat: Das andere Deutschland
Programm eines antinazistischen Kulturabends für deutsche Kriegsgefangene unter dem Titel Das andere Deutschland im amerikanischen Lager Fort Devens, Januar 1945. Das Programm enthält unter anderem Texte von Thomas Mann und Johannes R. Becher.
Akademie der Künste, Berlin, E.R.-Greulich-Archiv, Nr. 261

Das andere Deutschland

Das andere Deutschland konnte Hitler nicht aufhalten, und in dem gegenwärtigen Krieg, der die Großmächte in Konflikt mit ihm gebracht hat, hat man das andere Deutschland fast vergessen. Viele zweifelten, ob es wirklich existierte oder sie bestritten zumindest, daß es überhaupt eine Bedeutung habe.                                   

Bertolt Brecht, Das andere Deutschland, 1943/44

                             


Bedingt durch die sehr unterschiedlichen Lebenswege und Fluchtgründe der Emigranten fand das deutsche Exil ab 1933 zu keiner einheitlichen politischen Formation. Die Vielfalt der nationalsozialistischen Diskrimierungsgründe spiegelte sich in einer sehr heterogenen Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms. Da mit Ausnahme einer gemeinsamen Gegnerschaft gegen das NS-Regime eine einheitliche politische Agenda fehlte, entfaltete das Exil – ebenso wie der deutsche Widerstand – als moralisches Korrektiv und politische Alternative zu Hitler kaum öffentliche Wirkung. Im Ausland wurde politischen Eigeninitiativen von seiten der Geflohenen weitgehend misstraut, zumal die nach und nach zu Tage tretenden Kriegsverbrechen eine generelle Beurteilung der Deutschen als „mentally sick people“ (US-Finanzminister Henry Morgenthau) nahezulegen schienen.

Die repräsentative Bezeichnung „Das andere Deutschland“ suggiert eine Geschlossenheit, der in der Realität eine oft widersprüchliche Interessensvielfalt der Exilierten gegenüberstand. Im Bewusstsein, als „Stimme ihres stumm gewordenen Volkes“ (Heinrich Mann) zu sprechen, verstanden sich die Exilierten als die eigentlichen Hüter deutscher Kulturtraditionen. Diese antifaschistische Denkfigur, die der Kategorie des Nationalen stark verhaftet blieb, fand auch Niederschlag in der Remigrationsdebatte nach 1945 und verfestigte sich später zu einem Gründungsmythos der Deutschen Demokratischen Republik. Als viel benutztes Schlagwort wurde „Das andere Deutschland“ in zahlreichen Exil-Kontexten verwendet: als Titel antinazistischer Sachbücher von Erika und Klaus Mann (1940), von Heinrich Fraenkel (1942) sowie eines Essays von Bertolt Brecht (1943/44) oder als Name eines sozialistischen Hilfskommittees in Argentinien (1937), dem später eine gleichnamige Zeitschrift folgte. Ursprünglicher Namenspatron war eine 1933 verbotene deutsche pazifistisch-republikanische Zeitung, für die unter anderem Kurt Tucholsky und Erich Kästner schrieben. Die heutige Exilforschung setzt sich mit dem Begriff kritisch auseinander.

Weiterführende Literatur: 
Bischoff, Doerte / Komfort-Hein, Susanne: Vom anderen Deutschland zur Transnationalität. Diskurse des Nationalen in Exilliteratur und Exilforschung. In: Krohn, Claus-Dieter / Winckler, Lutz / Rotermund, Erwin (Hg.): Exilforschungen im historischen Prozess. Jahrbuch für Exilforschung 30/2012. München: Edition Text + Kritik 2012, S. 242-273
Fröschle, Ulrich: Das andere Deutschland. Zur Topik der Ermächtigung. In: Nickel, Gunther (Hg.): Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949. Göttingen: Wallstein 2004, S. 47-85
Papcke, Sven: Das Andere Deutschland. Exil und Widerstand als Verpflichtung. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. 5. Jahrgang (1995), S. 282-295

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