Schüler-Fragen an Ernest Wichner über die Reise in die Ukraine im Jahr 2004
Schüler-Fragen an Ernest Wichner über die Reise in die Ukraine im Jahr 2004
1. Wer machte den Vorschlag zu der gemeinsamen Reise in die Ukraine?
Herta Müller und Oskar Pastior, die schon seit gut drei Jahren an einem gemeinsamen Schreibprojekt über die Deportation (1945-1949) der Rumäniendeutschen – insbesondere von Oskar Pastior selber – in die Ukraine arbeiteten, machten mir gemeinsam diesen Vorschlag. Es ging darum, Oskar Pastiors Lagerorte zu finden und in Augenschein zu nehmen, Herta Müller wollte die Landschaft sehen, die Pflanzen, Bodenbeschaffenheit, das Licht über der Landschaft – alles, was man gesehen haben muß, um sich ein einigermaßen verläßliches Bild machen zu können von der Gegend, über die man schreibt.
2. Hatten Sie vor der Reise Bedenken?
Bedenken hatten wir keine, außer vielleicht der Befürchtung, das nicht zu finden, was wir suchten.
3. Wie lange dauerte die Reise?
Die Reise dauerte etwa zehn Tage.
4. Was haben Sie dort genau gemacht?
Wir haben uns eine Dolmetscherin und einen Fahrer samt PKW "gemietet" und sind aufgrund von Oskar Pastiors Erinnerungen losgefahren. Zuerst nach Kriwoi Rog (ukr.: Kriwii Rig), wo das erste Lager war, u.z. von Januar 1945 bis in die erste Maihälfte 1945. Dieses Lager haben wir auf Anhieb gefunden, schließlich gab es die Fabrik noch, und das Lager hatte sich in dem für die Arbeiter (als Wasch- bzw. Dusch- und Spindräume) vorgesehenen Nebengebäude jener Fabrik befunden. Hier hat uns Oskar Pastior erzählt, was er an jenem Ort getan hat. Die Bäume (Schwarzpappeln), für die er im froststarren Boden (Januar 1945) hatte Löcher ausheben müssen, waren nun 60-jährige ausgewachsene Bäume und säumten eine Allee. Außerdem hatte er dort Lastkraftwagen mit Kohle zu entladen und allerhand weitere Hilfsarbeiten zu verrichten.
Dann fuhren wir gut zweihundert Kilometer weiter östlich von Dnjepropetrowsk nach Gorlowka (wohnten in Donezk) in den sogenannten Donbas. Außerhalb der Stadt Gorlowka gab es eine weitere große Kokerei, in der Oskar Pastior vom Mai 1945 bis zu seiner Entlassung Ende 1949 gearbeitet hat. Das Lager selbst befand sich etwa zehn bis zwölf Gehminuten von der Fabrik entfernt und war mittlerweile verschwunden. Allerdings stand die Fabrik noch – wiewohl seit etwa zehn Jahren nunmehr außer Betrieb und schwer durch Vandalismus geschädigt. So daß sie auf O.P. den gleichen Eindruck machte wie 1945, als er sie zum ersten Mal gesehen hat: damals war die Front zwei Mal über die Fabrik hinweggegangen, sie war zerschossen worden und mußte von den Lagerinsassen erst einmal repariert und wieder in Betrieb genommen werden. Nun also der gleiche Anblick 60 Jahre später. Hier hatte O.P. sehr viel mehr zu erzählen: über das Leben im Lager, die Menschen dort, der Kampf gegen den Hunger, die Lagerordnung – vieles davon steht in Herta Müllers „Atemschaukel“; dann die Arbeiten in der Fabrik, wie die Fabrik funktionierte, was er in seinem Keller zu tun hatte: Loren mit heißer Schlacke beladen und an die Oberfläche ziehen …
5. Haben Sie auch Menschen besucht oder nur Orte?
Wir haben dort keine Menschen besucht, haben aber auf unseren Recherchegängen Menschen getroffen und mit ihnen gesprochen. Allerdings kaum mehr als das, was uns direkt interessierte. Und die meisten der Leute dort, hatten keine Erinnerung mehr an jene Zeit. Viele wußten überhaupt nicht, daß es dort mal Deportierte gegeben hatte.
6. Welchen Eindruck machte Oskar Pastior auf Sie? War er wütend oder traurig?
Oskar Pastior war weder wütend noch traurig. Er war sehr neugierig, geradezu begierig, die Orte wiederzufinden, seiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen, seine Erinnerungen durch die Orte und die Landschaft zu aktivieren. Er war neugierig auf sich selber, darauf, was mit ihm geschieht, wenn er sich mit jenen Orten auseinandersetzt. Wie sich die Erinnerung verändert, wenn sie mit den realen Orten von einst konfrontiert wird. Und er hat sich durch die Orte an sehr viel mehr erinnert als er vermutet hatte.
7. Wollte Pastior etwas Besonderes machen/sehen?
Ist weitgehend schon beantwortet.
8. Uns ist bekannt, dass Pastior in der Ukraine unter Salzmangel litt, und deshalb immer eine Salzdose bei sich hatte. Ist Ihnen diese Salzdose auf der Reise aufgefallen?
Ich habe keine Salzdose gesehen. Ich weiß, daß Salz im Lager ein teures Gut war, aber ich habe nicht sehen können, daß Oskar Pastior während unserer Reise etwa eigenes Salz oder gar eine Salzdose mit dabei gehabt hätte.
9. Hat Pastior viel von sich aus erzählt?
Ich war von Herta Müller und Oskar Pastior gebeten worden, sie auf dieser Reise zu begleiten. Außerdem war ich selber interessiert, diese Landschaft zu sehen, denn mein Vater war auch – allerdings nur ein halbes Jahr – in die Ukraine deportiert worden. Beeindruckt hat mich, wie Herta Müller und Oskar Pastior auch während der Reise – in Gesprächen – weiter an ihrem Projekt gearbeitet haben. Daß Herta Müller ihm die Pflanzen erklärte, die dort wuchsen; schließlich haben die Lagerinsassen aufgrund von zu schlechter und zu wenig Ernährung sich von wild wachsenden Gräsern und Kräutern ernährt, die sie zwar als eßbar erkannt hatten, von denen sie allerdings nicht so recht wußten, wie sie hießen. Oskar Pastior hatte sein Leben in der Stadt zugebracht, mithin keine Ahnung, was so alles in der Natur vorhanden ist und wie das alles heißt. Herta Müller, auf dem Lande geboren und von Kind auf mit allen Gräsern und Kräutern bestens vertraut, hat auf dieser Reise ihm so viel an Naturwissen beigebracht, daß er vermutlich anschließend alleine in der Wildnis hätte überleben können.
Beeindruckt hat mich besonders, wie wenig dazu gehört, jemanden in einen früheren Zustand zurückzuversetzen. Denn mitunter hatte man den Eindruck, Oskar Pastior verhalte sich so, als gäbe es das Lager immer noch. Beispielsweise aß er sehr viel mehr als er dies in Berlin tat – so als sei es ungewiß, ob es nach dieser Mahlzeit je wieder ausreichend zu essen gebe. Auch erzählte er davon, daß er nachts "wieder im Lager war", also vom Lager geträumt hat.
Ihn müssen recht widersprüchliche Gefühle damals umgetrieben haben: das Lagerleben war schön, schließlich war er selber damals jung; aber man starb auch im Lager an Hunger, Krankheiten, Unfällen. Man fühlte sich wohl im Lager, aber es gab auch die Aufseher, die einen schlugen, durch Karzer bestraften und die Hunde auf einen hetzten. Es gab Verrat, Mißgunst, Neid, Diebstahl im Lager, aber es gab auch Tanzabende mit Schlagermusik und Liebesgetändel. Ich habe verstanden, daß das Lager eine eigene, nur um ein paar Schraubendrehungen verschärfte Kopie der dieses umgebenden Gesellschaft war – was ja eine Binsenweisheit ist. Die Russen in den Dörfern rings um das Lager und die Fabrik lebten nicht sehr viel besser als die Lagerinsassen, aber sie hatten im Unterschied zu diesen die Illusion einer gewissen Freiheit.
Ernest Wichner, 10. Juni 2013