Flucht und Exil
Flucht und Exil
Klappt man Mascha Kalékos Tagebuch auf, so steht dort – nichts. Viele leere Seiten folgen. Irgendwann stößt man auf Einträge mit schwarzer Tinte. Doch seltsam: Die Daten und Jahreszahlen scheinen rückwärts zu laufen. Die Aufzeichnungen beginnen 1944, die Jahreszahlen 1941 oder 1940 tauchen weiter hinten auf. Hat Mascha Kaléko verkehrt herum in das Buch geschrieben? Oder hat sie beim Schreiben einfach nicht auf die Reihenfolge der Seiten geachtet?
Schlägt man die letzten Seiten des in karierten Stoff gebundenen Büchleins auf, so fällt der Blick auf zwei kleine quadratische Fotos. Eines zeigt Kalékos Mann Chemjo Vinaver, der zärtlich seinen kleinen Sohn Steven anschaut. Unter dem Foto ist zu lesen: „28.12.1937 Berlin-Charlbg." Das ist das Datum von Stevens erstem Geburtstag. Neun Einträge dieser Art folgen darunter, zum Beispiel „28.12.1940 Hollywood" oder „28.12.1958 Berlin". Das letzte Datum ist der 28.12.1963. Zu dieser Zeit lebte Steven Vinaver in London. Immer, so scheint es, wenn ihr Sohn umgezogen ist, hat Mascha Kaléko das im Tagebuch vermerkt.
Auffällig ist eine feine Linie, die zwischen dem ersten Eintrag und dem zweiten („28.12.1938 New York") gezogen ist. Was kann sie bedeuten? Diese Linie ist der endgültige Strich, den die Familie unter ihr Leben in Europa ziehen musste: Im Oktober 1938 emigrierte Mascha Kaléko mit ihrem Mann und ihrem fast zweijährigen Sohn in die USA.
Die Seite mit den Fotos ist der Anfang des Buches. Man muss es von hinten nach vorne lesen, wie ein hebräisches Buch. Mascha Kaléko war Jüdin und hat die ersten Einträge in hebräischer Schrift verfasst.
Die Übersetzung der ersten Worte lautet: „Das Tagebuch der Mascha Kaléko, geschrieben für ihren Sohn. Avitar. Du bist jetzt ein Jahr alt geworden. Dein Vater hat dieses kleine Buch gekauft, und wir wollen beide dann und wann hineinschreiben für Dich.“
Hinein geschrieben hat immer nur Mascha Kaléko, unregelmäßig, zum letzten Mal am 22. Januar 1944. Häufig schreibt sie über die Entwicklung ihres Sohnes. An vielen Stellen merkt man, wie traurig die Autorin gewesen sein musste. Und wie beängstigend die Situation im Exil war. Am 20. Juni 1941 schrieb sie: „Es wird immer schlimmer. Wir sind ohne Geld. Ohne Freunde. Ohne Verbindungen. Ohne Hoffnung. Geld haben ist nicht schön. Aber Geld nicht haben ist schrecklich. Fahrgeld fehlt. Schuhe fehlen. Medizin für Steven fehlt. Schule wird ihn nicht halten, wenn wir nicht zahlen können.“
Es ist erstaunlich, dass es dieses sehr persönliche Tagebuch von Mascha Kaléko gibt. Denn die Autorin hat zu Lebzeiten sehr darauf geachtet, was die Nachwelt von ihr erfahren sollte, und viele persönliche Dokumente und Briefe vernichtet. Durch dieses Buch können wir hautnah an ihrem Leben im Exil teilnehmen, an ihrer unerschütterlichen Liebe zu ihrem Sohn und ihrem Mann. So dicht, so nah, dass ich mich beim Lesen manchmal gefragt habe: Ist das nicht zu privat? Darf ich das wirklich lesen?
von Andrea Thormählen