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[links] Rio de Janeiro, Copacabana
rua Djalma Ulrich 217
Apartm. 17
[rechts] 23. Juli 41
[handschriftlicher Vermerk] eingetr. 31/7
Meine süssen Zwergäffchen,
ob Ihr wohl schon umgezogen seid? Ich bekam Eurem Bf (den nach Henr.
Dumont adressierten) - grosse Freude. Ich warte nicht weniger auf
Nachricht von Euch, als Ihr von Eurem alten Gindern. – Neues gibt es
garnix, jetzt heisst es warten, warten und schauen was wir aus Amerika
hören, ich meine Euer Amerika. Unseres hier ist ja kein Dessin. Unser
Leben hat sich ganz gut eingelaufen in der Wohnung, ich bin eine emsi-
ge Hausfrau mit Unterstützung aller. Unser Werner, der Blondling, von
dem ich Euch schrieb, kommt jeden zweiten Tag brav wie eine Putzfrau
und kocht und putzt und bügelt, dafür kann er mit uns essen – es geht
ihm sehr schlecht. Er schreibt schauerliche Kurzgeschichten und Film-
manuskripte, deren story mich immer sehr heimatlich anmutet, meistens
kann ich mich sogar erinnern, wer das gespielt hat. Aber eine nützliche
Person. Sonntag abend kommen Bechers immer zu uns essen, da kriegen sie
nichts in ihrer Pension. Letzten Sonntag hatte wir acht Leute hier –
darunter einen sehr netten ungarischen Zeichner, ein guter Freund von
Vertes, Kelen und Szenes. Er heisst Meitner, glaub ich, und ist in sei-
nem Wesen eine Mischung von den dreien mit einem Schuss Vater Aranyi –
dem sieht er nämlich ähnlich. Es war ein grosser Spaß über die alten
Burschen reden zu können, und Uli und ich, wir haben aufgeatmet,
wir waren so froh nach all den wackern Bofkes der Gruppe Goergen und
den andern, endlich wieder jemanden gesehn zu haben, mit dem man reden
kann. Georg W. ist sehr brav und ein verträglicher und unauffälliger
Hausgenosse, ausser dass er den ganzen Zag Klavier übt, aber man ge-
wöhnt sich so daran, dass man es garnicht mehr hört. Er flöht Paul mit
Leidenschaft jeden Tag, und es geht Paulchen schon wieder erträglich.
Wir sind viel zu Haus, hören Radio, spielen ab und zu ein Jass – Uli
macht keine Entdeckungsfahrten mehr, es ist wenig zu sehn, wenn man das
erste Staunen über die unerhört schöne Kulisse überwunden hat (die
einen aber immer wieder entzückt). Meitner hat gesagt, man riecht so-
gar die Pappe und den Leim, wenn man näher dazukommt. Unsere ganze
Sehnsucht ist, zu Euch zu kommen. Ich habe garkeine Sehnsucht nach Eu-
ropa im grossen ganzen, natürlich ab und zu überkommt es mich auch bei
irgend einer Erinnerung, und ich wäre nie weggegangen von dort, hab es
nur Euretwegen gemacht, und ich habe auch für andere Sehnsucht garkein
en Platz so sehr muss ich mich nach Euch sehnen und an Euch denken.
Ich wär gern dabei gewesen drüben, wenn es losgeht. Was sagt Ihr zu
der V-Sache. Sowas hat immer gefehlt, meiner Meinung nach. Das ist
eine Sprache, die alle unterdrückten und besetzten Völker verstehen,
und die Nazis können wenig dagegen unternehmen. – Uli hat sich Papas
Rat mit dem Namen sehr zu Herzen genommen, und ich seh es auch ein. –
Wie lang wird es noch dauern – und was mögen dann wieder für Bestimmgn
kommen? Es ist schier zum verzweifeln. Ich denke schon daran, nach Me-
xiko zu gehen, das ist wenigstens näher. – Wegen Paulick schrieb ich
schon: ich gab ihm meine hiesige Djalma Ulrich-Adresse. Wenn ich sehe
dass ich nicht mehr lang bleibe, gebe ich ihm Lifczis. Wassermann hat
die Wohnung hier auf ein halbes Jahr gemietet, also auch wenn wir aus-
ziehen sollten, ist er da. Oder Rolf – das ist auch keine schlechte
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Idee. (Er wohnt Zürich, Rousseaustr. 19, übrigens). Es geht ihm ganz
gut, er lebt sein Biedermannsleben weiter. Die Sachen von B.s sind beim
Spediteur eingestellt, Rolf wohnt in einer Pension. Ich habe alle meine
Sachen mit. Wir hatten zwei grosse Ueberseekisten als Frachtgut mit G.
schen Kisten mitgeschickt. Wir haben auch eine MengeBücher mit – Goethe
und Heine und Keller und Dostojewski, eine ganz nette Bibliothek. Sind
nun die Koffer aus Lissabon endlich unterwegs? Ich habe die Bücher da-
mals eingeschrieben abgeschickt, die Aufgabescheine lege ich bei.
Ich weiss nicht, wieso Ihr so lang ohne Bf von mir geblieben seid – ich
habe niemals 18 Tage nicht geschrieben? Wie lange gehen meine Bfe ge-
wöhnlich? – Meine Süsslinkos, ich komme mir vor wie in der Wüste ohne
Euch. Wie schrecklich, schrecklich lang haben wir uns nicht gesehn. Da-
mals, an dem Morgen, als Ihr mir weggefahren seid, bin ich wirklich ein
bischen gestorben. Natürlich bin ich manchmal auch lustig, aber nie
richtig. – Lebt gesund, meine Wonnepelze. Euer alter Kullopappa um-
kreist Euch immer in Gedanken und reibt seinen Schnabel an Euch.
[handschriftlich] D.
Von Uli alles Liebe. Er macht mir manchmal vor, wie Pappa geht, um
mir eine Freude zu machen. Wir reden soviel über Euch. Wenn er nicht
eifersüchtig ist, ist er eine sehr gute Seele.