Ulrich Becher: Die Topografie der Murmeljagd
Ulrich Becher: Die Topografie der Murmeljagd
Mensch u. Murmeli weisen gewisse ähnliche Verhaltungsmethoden auf. Allerdings töten Murmel nur ihre Altersschwachen (um sich von deren Kadavern nicht den Winterschlaf verpesten zu lassen), während Menschen ihre Jungen ins Gemetzel schicken. Da stimmt was nicht.
Ulrich Becher in einem Interview, 1970
In seinem opus magnum Murmeljagd verarbeitet Ulrich Becher die eigene Exilerfahrung im schweizerischen Pontresina im Sommer 1938. Bereits 1947 erwähnt der Autor in einem Brief an George Grosz ein 500-seitiges Manuskript, doch der Roman wird erst 1969 im Rowohlt Verlag veröffentlicht. Die zahlreichen Fassungen und Textstufen, die im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern sowie im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt liegen, zeugen von diesem langjährigen Schreibprozess.
Der opulente, facettenreiche Roman, der sich neben dem Genre des Exilromans auch in die Tradition des Kriminal- und Schelmenromans einschreibt, erzählt die autobiografisch gefärbte Geschichte des altösterreichischen Aristokraten, Kriegsveteranen und Sozialisten Albert Trebla, der 1938 infolge des sog. „Anschlusses“ Österreichs in einer abenteuerlichen Nacht- und Nebelaktion in die Schweiz flieht. Von Heuschnupfen geplagt zieht er sich in das abgelegene Oberengadin zurück, das zum Schauplatz einer Reihe unheimlicher Todesfälle wird.
Die vorliegende Skizze, die auf der Rückseite eines angefangenen Typoskripts figuriert, zeigt einige der Handlungsschauplätze, zwischen denen der Protagonist, nicht selten im geliehenen Cabriolet oder im Auto des exzentrischen „Hundeadvokaten“ de Colana, in einem atemberaubenden Tempo hin- und her rast. Damit ist sie symptomatisch für die Situation des Exilanten, der sich auch noch in der absoluten Ruhe der Bergidylle von den Schergen des Nazi-Regimes gejagt glaubt. Der Julierpass stellt dabei eine Art natürliche Grenze zwischen der Scheinwelt des Exils und der Realität der Vorkriegszeit dar. So erfährt Trebla erst jenseits des Alpenübergangs vom Tod des Schwiegervaters im KZ Dachau. Fernab von den Schauplätzen der NS-Verbrechen dringt der Krieg in Form von Hiobsbotschaften und Verfolgungswahn in die Bündner Bergidylle vor und trägt zu einer schauerlichen Atmosphäre bei, die sich in den Naturbeschreibungen des Texts widerspiegelt. An Bechers eigenem Schicksal bestätigt sich, wie trügerisch sich die Sicherheit des neutralen Landes für viele Exilanten herausstellte, wurde er doch 1941 im Zuge der durch die Besetzung Frankreichs verschärften Schweizerischen Asylpraxis des Landes verwiesen.