Martin Wagner: Brief an Ernst May (16. Juni 1938)
Martin Wagner: Brief an Ernst May (16. Juni 1938)
Sie werden Sich entsinnen, dass Sie mich selbst vor nicht langer Zeit nach USA entführen wollten. Nun ist es Gropius, der mich nach Cambridge an die Harvard University gerufen hat, […].
Martin Wagner an Ernst May, 16. Juni 1938
Seit 1935 lebte der Architekt und Städteplaner Martin Wagner im türkischen Exil. Im Juni 1938 vermeldete er von dort seinem auf den afrikanischen Kontinent emigrierten Kollegen Ernst May: „Das Schicksal hat mich nun doch beim Kragen.“ Wagner meinte damit seinen unmittelbar bevorstehenden Umzug in die USA.
May wusste bereits aus früherer Korrespondenz, dass Wagner in Istanbul unzufrieden war. Nun erklärte Wagner ihm, warum er seinen „Wanderstab“ ergreife. Er sinnierte, ein Westeuropäer gehöre nicht in den Orient. Eine Ausnahme bilde nur derjenige, der sein „ganzes Wesen“ aufzugeben bereit sei, um gutes Geld zu verdienen. Denn an Großzügigkeit türkischer Arbeitgeber habe es bis zuletzt nie gemangelt, betonte Wagner. Die Türkei sei jedoch prinzipiell kein Land für ihn als modernen Städtebauer. Er bilanzierte hiermit auch seine Erfahrungen mit Staatspräsident Atatürk. Weil dieser einen konservativen französischen Stadtplaner Wagner vorgezogen hatte, fühlte sich dieser zurückgesetzt.
Den Ruf nach Amerika verdankte Wagner Walter Gropius. Neben ihm sollte er zukünftig an der Harvard University lehren. Dass sich diese Zusammenarbeit als schwierig erweisen würde, konnte der Verfasser zum Zeitpunkt seines Briefes noch nicht wissen. Als problematisch sollte sich nämlich herausstellen, dass Wagner die formalistische Architektur, wie sie sein Kollege Gropius entwarf und den gemeinsamen Studenten an der Harvard School of Design lehrte, zu weit ging, weil sie in Wagners Augen die sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Probleme der Zeit außer Acht ließ.