Saša Stanišić: Zeugnis der 6. Klasse
Saša Stanišić: Zeugnis der 6. Klasse
Heidelberg war Flucht und Neubeginn, war das Prekäre und die Pubertät, erste Polizeikontrolle und erste Liebe, Sperrmüllmöbel und Studium. War irgendwann trotziges Selbstbewusstsein, das rief: Weil ich es kann! Dann las ich aber auf dem Friedhof von Oskoruša meinen Nachnamen auf jedem zweiten Grabstein. Und habe mir aus dem, was man mit Herkunft zu tun hatte, aus meiner unbekannten Verwandtschaft und meinen bekannten Orten, gleich mal mehr gemacht.
Saša Stanišić, Herkunft, 2019
Saša Stanišić floh 1992 mit seiner Familie vor dem Krieg in Bosnien. Die Flucht endete in Heidelberg. Dort besuchte er mit anderen Kindern, die bis dahin in nicht-deutschsprachigen Ländern aufgewachsen waren, eine Klasse, in der neben dem regulären Unterrichtsstoff die deutsche Sprache vermittelt wurde. Diese Annäherung beschreibt Stanišić in Herkunft (2019) mit dem Bild des Packens: „Die neue Sprache lässt sich einigermaßen gut packen, aber ganz schlecht transportieren. Du verstehst mehr, als du sagen kannst. An den Gepäckbändern der Deklination vergisst du Endungen, die deutschen Wörter sind zu sperrig, die Fälle geraten durcheinander und die Aussprache guckt immer raus, ganz egal, wie du die Sätze zusammenlegst.“
Das Zeugnis aus der sechsten Klasse hebt die schnellen Fortschritte hervor, die Stanišić beim Deutschlernen machte und deutet schon auf den kreativen Umgang mit der deutschen Sprache voraus. Eine kurze Anekdote in Herkunft berichtet von der Unterstützung, die Stanišić bei seinen ersten lyrischen Versuchen von seinem Deutschlehrer erhielt. Dieser kam schließlich auf die Idee, eines der Gedichte unter Pseudonym der Klasse vorzulegen, die gerade Lyrik über Flucht und Heimatverlust von Hilde Domin und Rose Ausländer behandelte. In Erinnerung daran hält Stanišić fest: „Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.“