Nelly Sachs: Kurzer Lebenslauf während der Zeit der nazionalsozialistischen [sic] Verfolgungen
Nelly Sachs: Kurzer Lebenslauf während der Zeit der nazionalsozialistischen [sic] Verfolgungen
Meine Stimme war zu den Fischen geflohen. Geflohen ohne sich um die übrigen Glieder zu kümmern, die im Salz des Schreckens standen. Die Stimme floh, da sie keine Antwort mehr wußte und „sagen“ verboten war.
Nelly Sachs, Leben unter Bedrohung, 1956
Die Dichterin Nelly Sachs floh im Mai 1940 zusammen mit ihrer Mutter nach Schweden. Es ist wenig darüber bekannt, was sie in den Jahren seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in ihrer Heimatstadt Berlin erlebt hat. Sie gab darüber, wie auch über ihre Kindheit und Jugend, keine konkreten Auskünfte. Ihrem langjährigen Förderer, dem Exilforscher Walter A. Berendsohn, schrieb sie dazu in einem Brief: „Wenn ich bedenke, daß mein Schicksal, soweit es überhaupt einmal Menschen gibt, die es interessieren könnte, schon in meinen Gedichtsammlungen deutlich zu lesen steht – so scheint es mir, als erübrige es sich, von ganz wenigen sachlichen Unterrichtungen vielleicht abgesehen, so außerordentlich Geringes und im Verhältnis zu einem Leben voll innerer Tragik so Unwichtiges einzuflechten wie Berichte über ein einmal gelebtes tägliches Leben.“
Die Unterlagen, die Sachs im Jahr 1952 zusammenstellte, um Schadensersatz für das erzwungenermaßen zu einem Schleuderpreis verkaufte Haus der Eltern und den gesamten Hausstand zu fordern, sind insofern eine bedeutende Quelle, auch wenn auch hier kaum Details zu erfahren sind. Der kurze „Lebenslauf“, in dem von Erpressung durch die Mieter und Bedrohung der besten Freundin die Rede ist, gibt dennoch einen Eindruck davon, wie der wiederholte gewaltsame Eingriff in die Privatsphäre die sensible und zurückgezogen lebende Künstlerin verstört haben muss: Sie verstummte für mehrere Tage. „Meine Stimme war zu den Fischen geflohen“, schrieb sie dazu in dem kurzen Prosastück Leben unter Bedrohung, der 1956 auf Deutsch erschien.