Herta Müller: Reisende auf einem Bein (1989)

Umschlagvorderseite: Herta Müller, Reisende auf einem Bein
Herta Müller: Reisende auf einem Bein, 1. Ausgabe. Berlin: Rotbuch Verlag, 1989
Deutsche Nationalbibliothek, D 89/41617, mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch Verlages

Herta Müller: Reisende auf einem Bein (1989)

Reisende, dachte Irene, Reisende mit erregtem Blick auf die schlafenden Städte. Auf Wünsche, die nicht mehr gültig sind. Hinter den Bewohnern her. Reisende auf einem Bein und auf dem anderen Verlorene. Reisende kommen zu spät. 

Herta Müller, Reisende auf einem Bein, 1989


Reisende auf einem Bein (1989) ist der erste Prosaband, der nach Herta Müllers Übersiedlung von Rumänien nach Berlin erschien. Die Autorin setzt sich in diesem Text literarisch mit dem Ortswechsel auseinander. Im Zentrum des Textes steht Irene, die sich als „Ausländerin im Ausland“ bezeichnet und nach ihrer politisch begründeten Ausreise aus dem Rumänien Ceauçescus in Westberlin ein neues Leben beginnt. Das Reisen auf einem Bein, als wäre das eine Bein an dem Ort der Abreise geblieben und das andere Bein schon angekommen, zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Text.

Ist das eine Bein unterwegs oder gar verloren? Was heißt es, als politisch Verfolgte die Heimat verlassen zu müssen? Welche Formen von Fremdheit gibt es in einer neuen Stadt?

Aus diesem Zwischenzustand des noch nicht ganz abgereist Seins, aber auch noch nicht ganz angekommen Seins, blickt Irene als Grenzgängerin auf die Dinge. In ihrer Wahrnehmung zerlegt sie das, was sie sieht, bis ins Detail oder setzt es wie in einer Collage neu zusammen. Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, denen im Text Aufmerksamkeit geschenkt wird: der Riss in einer Kaffeetasse, der Daumen eines Sachbearbeiters in einem deutsche Amt, das Loch in einem Strumpf oder eine Wolke zwischen Ost- und Westberlin. Auf diese Weise entsteht ein fremder und sehr poetischer Blick auf Vertrautes, der danach fragt, was Identität ist, was Heimat bedeutet und ob eine Ankunft überhaupt möglich ist.

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