Ludwig Marcuse: Brief an Hermann Kesten, New York, 15. Juni 1939

Brief: L. Marcuse an H. Kesten, 1939
Maschinenschriftlicher Brief von Ludwig Marcuse an Hermann Kesten, New York, 15. Juni 1939
Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek. München. HK B 762

Ludwig Marcuse: Brief an Hermann Kesten, New York, 15. Juni 1939

Nachdem Toller, völlig vereinsamt, zu Grund ging, er hatte zum Schluss vielleicht noch vier Menschen, mit denen er sich aussprechen konnte, wurde seine Trauer-Feier ein gesellschaftliches Ereignis [...].

Ludwig Marcuse an Hermann Kesten, 15. Juni 1939


Am 15. Juni 1939, drei Wochen nach dem Selbstmord Ernst Tollers am 22. Mai in New York, berichtete Ludwig Marcuse, der noch am Vorabend mit ihm zusammen gewesen war, dem Schriftsteller Hermann Kesten in einem Brief ausführlich über die Geschehnisse.

Enge Freunde wie Fritz H. Landshoff berichteten später von der psychischen Labilität und der physischen Erschöpfung Ernst Tollers im Frühjahr 1939. Er litt unter Depressionen, Schreibblockaden, privaten Problemen und befand sich in Behandlung bei mehreren Ärzten. Besonders getroffen war er von den politischen Entwicklungen der zurückliegenden Monate, der Besetzung der Tschechoslowakei und der weiteren Festigung des nationalsozialistischen Machtbereichs in Europa, die ihm die Aussichtslosigkeit seines Engagements vor Augen führten. Ab Mitte 1938 organisierte er in monatelangem Einsatz eine weltweite Hilfsaktion für die Zivilbevölkerung im Spanischen Bürgerkrieg. Durch den Sieg Francos und des Faschismus konnte sie nicht mehr in die Tat umgesetzt werden.

Tollers letzter öffentlicher Auftritt war eine Rede auf der Tagung des Internationalen PEN-Clubs in New York und die Einladung zu einem offiziellen Empfang am 11. Mai 1939 im Weißen Haus. Für Ende Mai war eine Reise nach Europa geplant.

Der Selbstmord wurde über die Kreise der Emigration hinaus mit großer Bestürzung aufgenommen. An der Gedenkfeier am 27. Mai, von der Marcuse in dem Brief berichtet, nahmen 500 Trauergäste teil. Grabreden wurden gehalten von Oskar Maria Graf, Juan Negrín, Sinclair Lewis und Klaus Mann, der eine Botschaft seines Vaters verlas.

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