Alfred Kerr: Seite aus dem Gedichtband Melodien (1938)
Alfred Kerr: Seite aus dem Gedichtband Melodien (1938)
Ich bin da auf die Erscheinung des Kritikerdichters zu sprechen gekommen, als die Kerr sich selbst oft bezeichnet hat. Das ist der Mensch, der aus Dichtung wieder Dichtung, gedichtete Kritik macht.
Robert Musil, Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten Kritikers, 1928
In dem Gedicht Die illegalen Kämpfer in Deutschland, in dem der 1936 nach Großbritannien weitergeflüchtete Alfred Kerr die Widerstandsbewegung in Deutschland ehrte, hatte er einen elegischen Ton angeschlagen. Er wählte diese Buchseite aus dem Gedichtband Melodien für eine Ausstellung des Freien Deutschen Kulturbunds aus, die englische Bürger über den Widerstand in Deutschland informieren sollte. Er ließ es deshalb auch übersetzen. Dieses und auch andere Gedichte waren in Melodien mit der Kapitelüberschrift „Fuge“ versehen. Denn Kerr hatte sein drittes Exil-Buch wie eine Symphonie gestaltet. Den ersten Satz nannte er „Tutti“ (alle), den zweiten „Solo“ (allein). So verband er Themen, die sich mit der Entwicklung in Deutschland beschäftigten, mit seinem persönlichen Leben. Formgebend waren auch Psalm, Requiem und Trauermarsch. Bezeichnungen wie „Vivace“ (lebendig), „Allegro con fuoco“ (lebhaft mit Feuer), und „Andante“ (ruhig, langsam) gaben Anweisungen, wie man die Texte zu lesen hatte und sagten etwas darüber aus, mit welchem Gefühl sie geschrieben worden waren. Er erinnerte in Reimen an verstorbene Künstler: Otto Brahm, Klabund, Herman Bang und Beethoven, er porträtierte Max Herrmann-Neiße, Egon Erwin Kisch und Ernst Busch, die ins Exil gegangen waren wie er. Auch über einen Vormittag in Paris schrieb Kerr in Melodien, wie er ihn 1935 als Emigrant empfunden hatte: „Höchst wendig ist das Wetter jetzt; / Ich fahre durch die Seinestadt / Und lese langsam und entsetzt / Im Autobus ein Zeitungsblatt.“ (Alfred Kerr, Die Diktatur des Hausknechts und Melodien, 1981, S. 172)