Fremde der Heimat – Blick auf Deutschland

Mascha Kaléko: Postkarte aus Berlin
DLA Marbach, Nachlass Mascha Kaléko, © Gisela Zoch-Westphal

Fremde der Heimat – Blick auf Deutschland

Junges Museum

Hier siehst Du eine Postkarte, die Mascha Kaléko am 3. April 1956 aus Berlin an ihren Mann schrieb. Silvester 1955 war die Autorin allein zu einer Europareise aufgebrochen. Ihr Mann Chemjo Vinaver und ihr Sohn Steven waren in New York geblieben. Erst im Dezember 1956 kehrte Mascha Kaléko in die USA zurück. Während ihres einjährigen Aufenthalts in Europa schickte sie etwa 80 Briefe und Postkarten an ihren Mann.


Auf der Postkarte siehst Du einen Teil von Berlin, genauer gesagt, eine große Straße, an deren Ende die Gedächtniskirche zu sehen ist. Diese wurde, wie du erkennen kannst, im Zweiten Weltkrieg bei der Bombardierung der Stadt nicht verschont, weshalb nur noch eine Ruine von ihr übrig ist. Auf der Straße befinden sich wenige Autos und einige Menschen. An den Seiten der Straße stehen Häuserblöcke, in deren unteren Etagen es Cafés und Läden gibt. In die linke, obere Ecke schrieb Mascha Kaléko einen kleinen Text.

In ihm steht unter anderem: „Kein Stein von unserem Café zu finden“. Dieses Zitat drückt meiner Meinung nach ihre Erkenntnis aus, dass das Berlin, wie sie es kannte, nicht mehr existierte. Ich finde, dass sie dies durch das Unterstreichen der Worte „kein Stein“ besonders hervorhebt. Die Schrift auf der Postkarte kann man recht gut lesen. Versuche selbst einmal, Mascha Kalékos Zeilen zu entziffern.

Die Postkarte stammt aus der Zeit ihres ersten Berlinbesuchs, nachdem sie fast 20 Jahre nicht in Deutschland gewesen war und im Exil in Amerika lebte. Während dieser langen Zeit hatte Mascha Kaléko öfters Heimweh, was ich gut verstehen kann, wenn ich mir überlege, dass ich meine Heimatstadt mit all meinen Freunden und Bekannten verlassen müsste. Als Mascha Kaléko sich jedoch entschloss, Berlin wiederzusehen, war sie enttäuscht über die Veränderung und fühlte sich fremd. So war zum Beispiel von dem Café, in dem sie vielleicht viele schöne Stunden erlebt hatte, nichts mehr übrig. Wie würdest du dich in einer solchen Situation fühlen?


Mascha Kaléko beschreibt ihren ersten Besuch in Deutschland und ihre Erfahrungen sehr schön in den folgenden Gedichten:

SOZUSAGEN EIN MAILIED

Manchmal, mitten in jenen Nächten,
Die ein jeglicher von uns kennt,
Wartend auf den Schlaf des Gerechten,
Wie man ihn seltsamerweise nennt,
Denke ich an den Rhein und die Elbe,
Und kleiner, aber meiner, die Spree.
Und immer wieder ist es dasselbe:
Das Denken tut verteufelt weh.

Manchmal, mitten im freien Manhatten,
Unterwegs auf der Jagd nach dem Glück,
Hör ich auf einmal das Rasseln der Ketten.
Und das bringt mich wieder auf Preußen zurück.
Ob dort die Vögel zu singen wagen?
Gibt's das noch: Werder im Blütenschnee ...
Wie mag die Havel das alles ertragen,
Und was sagt der alte Grunewaldsee?

Manchmal, angesichts neuer Bekanntschaft
Mit üppiger Flora, – glad to see -
Sehnt sichs in mir nach magerer Landschaft,
Sandiger Kiefer, weißnichtwie.
Was wissen Primeln und Geranien
Von Rassenkunde und Medizin ...
Ob Ecke Uhland die Kastanien
Wohl blühn?

Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und
Briefe in vier Bänden. Hrsg. und komm.
von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke.
München: Deutscher Taschebuch
Verlag. S. 178. © für den Text:
1975, 2012 Gisela Zoch-Westphal, Zürich.

ALS ICH EUROPA WIEDERSAH …

Als ich Europa wiedersah
– Nach jahrelangem Sehnen –
Als ich Europa wiedersah,
Da kamen mir die Tränen.

Im grauen Frühlicht die Stadt Paris
Umarmte mich wie vor Jahren,
Als der zweite Vorkrieg noch „Nachkrieg“ hieß,
Und wir noch beheimatet waren.

Paris, du mein geliebtes Paris,
Du Herzensstadt der Franzosen,
Du reimst dich noch immer auf Paradies,
Du Heimat der Heimatlosen.

Mir haben die Jahre den Übermut
Ein wenig ausgetrieben.
Doch du bist noch immer der Tunichtgut,
Paris, du bist Achtzehn geblieben!

Dein Lieblingswort ist noch immer „l’amour“,
Dein Sirenengesang – höchst verderblich!
Deine Bäume, sie rauschen in Moll und in Dur,
Paris, dein „esprit“ ist unsterblich.

Old London hat seinen Tee und sein Bier,
Doch du hast Champagner im Blute.
Seit ich dich wiedergesehn, ist mir
So feiertäglich zumute.

– Wie soll ich euch lassen, ihr Gassen am Quai,
Ihr Träume am Ufer der Seine…
Adieu, du mein freundlicher Beaujolais!
Und verzeih diese Abschiedsträne.

Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und
Briefe in vier Bänden. Hrsg. und komm.
von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke.
München: Deutscher Taschebuch
Verlag. S. 230f. © für den Text:
1975, 2012 Gisela Zoch-Westphal, Zürich.

von Anja Bröckel